Sehnsucht und Ich-Krise

Karin Boye ist eine der wenigen schwedischen Autor*innen des frühen 20. Jahrhunderts, deren Wirken oft mit Homosexualität verknüpft wird. In ihrem Roman Kris (1934, dt. Krisis) etabliert sie eine neue Semantik des »verbotenen« Begehrens.

Von Malin Ramswig

Bild: von Sophie Taeuber-Arp via Wikimedia Commons, gemeinfrei

»Eingehüllt war ja die Knospe den ganzen Winter / Was ist das Neue, das zerrt und gewaltsam aufspringt? / Gewiss tut es weh wenn Knospen springen«. Diese Zeilen aus dem Gedicht Gewiss tut es weh der schwedischen Autorin Karin Boye (1900-1941) beschreiben metaphorisch den Weg zum eigenen, inneren Wesenskern, den zu beschreiten die Zerstörung schützender, einengender Hüllen impliziert und der den wesentlichen Rahmen der Erzählung Krisis (1934) umreißt. Das Gedicht wird gerne mit Erfahrungen gleichgeschlechtlicher Liebe in Verbindung gebracht, meiner Meinung nach zu Recht.

Homosexualität ist in Schweden bis 1944 gesetzlich verboten. Der Diskurs, der die schwedische Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts durchzieht, atmet von Vorstellungen, die Homosexualität mit Abnormität, Selbstdestruktivität und Todestrieb verknüpfen. So schildern fiktionale Erzählungen Homosexuelle wahlweise als im Allgemeinen schlecht angepasste Menschen, oder aber, wenn sich die Charaktereigenschaften der betroffenen Figur im Spektrum des menschlich »Normalen« bewegen, als psychisch krank. Meist enden die Geschichten dieser Figuren in Selbstmord, Verrücktheit, Psychosen oder mit einer Rückkehr in eine heteronormative Ordnung.1Borgström, Eva (2016): Berättelser om det förbjudna. Begär mellan kvinnor i svensk litteratur 1900-1935, Kriterium, S. 211.

»Eine Krankheit, die bestraft wird«

Der Roman Krisis wird ein Jahr nach einem Gesetzentwurf von Wilhelm Lundstedt publiziert, in dem er die Entkriminalisierung von Homosexualität fordert, aber auch ein Jahr, nachdem Gunnar Nycander in En sjukdom som bestraffas sinngemäß schreibt, dass Homosexualität für das Individuum und für die Gesellschaft eine nicht erwünschte Krankheit oder Abnormität und als solche zu bestrafen sei.2Nycander, Gunnar (1933): En sjukdom som bestraffas, Wahlström & Widstrand, S. 158. Die Frage, ob man Homosexualität nun als Krankheit oder als Verbrechen behandeln soll, wird zu diesem Zeitpunkt glühend heiß diskutiert.

In Krisis kreiert Boye eine neue Formsprache, um gleichgeschlechtliches Begehren im literarischen Text zu gestalten, ohne heteronormative Denkmuster zu reproduzieren. Die Biographin Margit Abenius schreibt 1942, es sei vor dem Hintergrund eigener homosexueller Erfahrungen eine Herzenssache für Boye gewesen, diesen Roman zu schreiben. Im Bewusstsein, dass es gilt, beim Umgang mit biographischen Informationen große Vorsicht walten zu lassen, bin ich doch überzeugt, das eine oder andere über Boyes Leben und den zeitgenössischen Kontext in meine Rezeption von <em>Krisis</em> einfließen lassen zu müssen. So beschreibt Abenius einen Aufenthalt Boyes in Berlin als entscheidenden Wendepunkt in deren Leben: Sie knüpft dort nähere Bekanntschaft mit der in urbanen Räumen florierenden Gaykultur, trifft Margot Hanel, die Frau, die ihre spätere Lebenspartnerin werden sollte, und findet dort den Raum, der es ihr ermöglicht, ihre eigenen Gefühle zu akzeptieren.3Vgl. Borgström, Eva: wie Anm. 1, S. 212.

Abenius’ Strategie, Boyes Texte konsequent vor der Folie ihres Lebens abzubilden und sie als Ausdruck einer aus der Homosexualität resultierenden Selbstdestruktivität zu sehen, ist nunmehr immer mehr in die Kritik geraten, denn die Autorin hat sich entschieden dagegen gewehrt, ihre Texte als persönliche Beichte zu sehen.4Vgl. ebd., S. 213. Abenius’ Neigung, Boyes Homosexualität als von der Norm abweichend, als krankheitshervorrufend und als verantwortlich für ihren frühen Tod darzustellen, ist scharf zu verurteilen. Es ist klar, dass das Zersplitterte in Boye und in ihren Texten nicht in ihrer emotionalen Konstitution, sondern in dem Faktum zu suchen ist, dass sie in einer homophoben Gesellschaft lebte, die ihre Liebe nicht tolerierte.

Die Literaturwissenschaftlerin Eva Borgström hingegen findet die Kritik an Abenius nur teilweise berechtigt, da Abenius trotz allem dem »Verbotenen«, also der gleichgeschlechtlichen Liebe, viel Aufmerksamkeit widme und regelrechte Momente der Erleuchtung habe: So überlegt sie beispielsweise, ob nicht das eigentliche Problem Homophobie und nicht Homosexualität sei. Auch dass Abenius darauf verzichtet, Boye zu heterosexualisieren, zählt zur Entstehungszeit des Buches sicherlich nicht zum Gewöhnlichen. Aber Tatsache bleibt, dass Abenius sich Homosexualität gegenüber ambivalent verhält, auf eine Art, die vollkommen inakzeptabel ist. Die Abschnitte, in denen Abenius die Beziehung Boyes zu Margot Hanel beschreibt, sind durchzogen von einer ganzen Kaskade an homophoben und antisemitischen Kommentaren, in denen Abenius Margot Hanel zum Sündenbock für Boyes Homosexualität macht: Hanels Homosexualität stellt sie als tief im Erbgut verankerte Veranlagung dar. Abenius führt so das zu ihrer Zeit beliebte Bild des »Homosexuell-Vererbbaren« weiter, das Homosexualität als Gefahr für die Gesellschaft rahmt, denn sie »verführe« »normale« Bürger*innen zu sexuell »abweichendem« Verhalten.5Vgl. ebd., S. 216.

Die Ich-Krise der jungen Malin Forst

Malin Forst, die zwanzigjährige Protagonistin in Krisis, sitzt zu Beginn des Geschehens am ersten Tag eines neuen Semesters im großen Saal eines Lehramtsseminars in der Nähe von Stockholm. Ihre Gedanken, die eingehend mit geistlichen Fragen beschäftigt sind, verraten, dass sie in einem autoritären Glauben gefangen ist und innerhalb eines engen, von Normen abgesteckten Raums lebt. Sie betet dafür, Kraft zu bekommen, um alle persönlichen Wünsche und Neigungen hinter sich lassen zu können und so zu einem gehorsamen Werkzeug Gottes zu werden. Wir Leser*innen begleiten Malin während des nächstens Jahres und erleben, wie sie sich rücksichtlos durch die Studien peitscht. Sie ist sich selbst nie genug, gibt sich ganz und gar dem Mantra »Bete und arbeite« hin, und doch erscheint ihr alles, was sie ist und was sie erreicht, als missglückt, als schwach, als falsch.6Boye, Karin (1934, 1985): Krisis, Neuer Malik Verlag, S. 33f. Unter ihrem harten und sich selbst verurteilenden Blick verschlechtert sich ihr mentaler und physischer Zustand zusehends; sie bricht immer öfter unter unkontrollierbaren Weinausbrüchen zusammen. Man errät, dass in ihr ein grundlegendes Gleichgewicht aus der Balance gehoben ist und dass sich dort Kräfte austoben, die die engen, vertrauten Wände ihres Lebens fundamental ins Wanken bringen. Eine unheimliche, zunächst nicht zu begreifende Situation – Malin hält sich mit aller Kraft an den sinn- und ordnungsstiftenden Prinzipien Glaube, Religion und Fügsamkeit in die gesellschaftlichen Normen fest. Ihr Umfeld reagiert hilflos; ihre Mutter lässt sie durch einen renommierten Psychiater untersuchen, der sie jedoch nicht ernstnimmt, stattdessen pro forma mit einer Flasche Arsenik- und Valerianalösung nach Hause schickt.

Es erklärt sich von selbst, dass die Tropfen und das geheuchelte Verständnis Malins Krise um keinen Deut lindern. Malin treibt in einem stürmischen Meer, alleine, orientierungslos, ohne Halt und ohne Verbindung zur Welt. In ihrer tiefgreifenden Empfindung des eigenen Ichs als durch und durch wertlos erreicht sie einen existenziellen Nullpunkt. Das Resultat: Sie wünscht sich ewige Verdammnis.

Doch dann geschieht etwas, das Malins Gedanken- und Gefühlswelt grundlegend verändert. »Als sie [Malin] nach dem Gebet den Kopf hob, heftete sich ihr Blick auf den Nacken Siv Lindvalls. Ein feiner, schlanker Pfeiler, der sich wie eine stille Hymne aus einem vollendeten Rücken erhob. Und das Wunderliche geschah, daß Malins angespannte und geplagte Muskeln für einen Augenblick in Ruhe erschlafften, daß die irrenden, rastlosen Augen einen Halt fanden, daß die Gedanken vom Urteil abließen, sich in dem befreienden, schönen Linienspiel dort vor ihr wegträumten. Die Gedanken, die sonst immer zur Aufmerksamkeit gezwungen werden mußten – sie brauchten hier nicht gezwungen zu werden, sie waren da und blieben, ohne sich davon losreißen zu können. Eine Befreiung. Ein Wunder.«7Ebd., S. 92.

Malin kann wieder Atem holen, sie erlebt einen Augenblick der Ruhe. In diesem einen Blick auf den Nacken ihrer Kommilitonin Siv liegt der erlösende Weg fort vom eiskalten, autoritären Gottesglauben, der Malin geplagt hat.

Ein Elfenbeinhals, der einem vollendeten Rücken entsteigt, kann ohne Worte mehr direkte Forderungen an einen Menschen stellen als alle Gesetzesgebote zusammen.

Ebd., S. 140.

Siv ist nicht nur die Person Siv, sondern ein Bild, ein Weg.

Denn Siv stand mit all dem, was unmittelbar und sicher und selbstverständlich ein Dasein hatte, mit den augenscheinlichen Dingen und mit den stummen Geschöpfen, Pflanzen und Tieren, im Bunde.

Ebd., S. 141.

Nur durch den Anblick Sivs, der zum Haltepunkt in Malins zuvor sturmzerfressener Welt wird, gewinnt ihre Umgebung wieder an Konturen, das Leben bekommt einen Sinn, eine Bedeutung. Malin liebt, und an dieser Stelle eröffnet sich ihr eine Fülle an neuen Perspektiven, Emotionen, Vorstellungen. Mit Karin Boyes poetischen Worten verändert sich die ganze Welt in den Augen des liebenden Menschen; die Liebe gibt der Natur Farbe und Form und Schönheit. Die Welt wird mit Musik gefüllt, »[a]ll das, weil ich dich gesehen habe, Siv.«[10. Ebd., S. 156.]. Malin <em>sieht</em> Siv mit den Augen einer Liebenden, denen sich viel mehr offenbart, als ein flüchtiges Betrachten jemals eröffnen könnte.

Trotzdem passiert nichts zwischen Malin und Siv. Malin sieht Siv, Siv sieht sie nicht; die Liebe bleibt unbeantwortet, und eines Tages versteht Malin, dass Siv einen Freund hat. Diese Entdeckung wird mehrfach mit den Worten »einfach« und »natürlich« kommentiert. Unter dem Begriff »Natur« versteht die wissenschaftliche Rhetorik ein beliebtes Mittel, Menschen in ein heteronormatives Schema zu pressen.8Vgl. Borgström, Eva: wie Anm. 1, S. 219. Die ganze Welt mag der Ansicht sein, dass Heterosexualität eine Selbstverständlichkeit sei, aber für Malin kommt die Einsicht, dass Siv einen männlichen Partner hat, völlig überraschend. Und diese Einsicht tut weh. Ihr neues Lebensgefühl gibt sie jedoch dennoch nicht auf, sondern entscheidet sich, dafür zu kämpfen. Sie beginnt, einen eigenen Willen zu entwickeln und spürt eine immer intensiver werdende Verbindung zu dem ewigen Rebellen Luzifer. Sie ist eine Revoluzzerin geworden und macht sich gemeinsam mit ihrem Verbündeten Luzifer stark gegen unterdrückende und diskriminierende Normen und Vorstellungen.

Unsere Protagonistin hinterfragt den vorher so fest und unveränderlich eingemeißelten Grundsatz des Lehrplans, der vorsieht, man solle »lieb und gehorsam« sein. Soll man wirklich immer gehorchen? Soll man wirklich immer folgsam und unterwürfig sein? Malin zweifelt. Sie fragt sich: Geht es in diesem Gebot nicht vielmehr darum, dass die Privilegierten ihre Privilegien behalten wollen? In einer rasanten Aneinanderreihung von Gedanken, Gedankenfetzen und Assoziationen bringt sie den Konflikt auf den Punkt:

Ich würde das so nennen: Die Lehre der Mächtigen vom Verbot zum Aufruhr. Und Moral ist etwas anderes…

Wie soll Malin noch an religiöse Vorstellungen von Moral glauben, wenn diese ihr doch das Wesentlichste, nämlich einen Rückhalt für die Gefühle, die ihrem Leben Wert und Inhalt verleihen, nicht zu geben vermögen? Nicht zum ersten Mal diskutiert der Roman implizit und explizit gesellschaftliche Machtfragen und Deutungsansprüche und daraus resultierende Spannungen. Ein assoziatives transtextuelles Netzwerk führt die Gedanken weit zurück bis in die Antike, in der Sophokles’ Heldin Antigone ihre eigene Moral gegen die der Staatsautoritäten abzuwägen beginnt. Beide Protagonistinnen sehen sich mit einem explosiven Konflikt zwischen Innen- und Außenwelt konfrontiert.

Das imaginäre Schachspiel der Mächte

Neben Malins Geschichte nährt sich der Roman von einer Reihe eingeschobener Dialoge und Einwürfe, die hier und da mit dem Geschehen verwoben sind und es an anderen Stellen unterbrechen. Krisis ist ein ausgesprochen polyphoner Roman, in dem Malins Emanzipationsprozess auf vielfache Art kommentiert und begleitet wird. Gleichzeitig werden die meisten der zeitgenössischen Vorstellungen von gleichgeschlechtlicher Liebe aktualisiert und problematisiert, manchmal explizit, manchmal implizit. So diskutieren ein Mediziner, ein Theologe und ein Humanist, wie man »Neurasthenie« (Nervenschwäche), die Diagnose, mit der der Psychiater Malin versehen hat, verstehen soll. Die Begriffe »Neurasthenie« und »Homosexualität« überlagern sich. Der Humanist ist schließlich derjenige, der die »neuen« Gedanken formuliert: er argumentiert dafür, dass die Neurasthenie (lies: gleichgeschlechtliche Liebe) nicht medizinisch erklärt werden kann, weil es sich nicht um eine Krankheit handelt. Stattdessen fordert er, in die Deutung soziale Normen und Umgangsformen zu involvieren.

In weiteren eingeschobenen Dialogen duellieren sich die zwei abstrakten Prinzipien und konstruierten Gegenpole WEIß und SCHWARZ in einem imaginären Schachspiel der Mächte, wobei SCHWARZ das Triebleben repräsentiert, das Wilde, die formlose und ungezähmte Urkraft, und WEIß als die begrenzende und formende Kraft auftritt. In einem Schlagabtausch lassen die beiden ihre Muskeln spielen, suchen, die Oberhand zu gewinnen. Der Dialog handelt vom Kampf zwischen dem Unkontrollierten und der moralischen Vernunft, der in Malin wütet. WEIß vermag es, die Kräfte, über die SCHWARZ herrscht, zu beugen und einzupferchen, was zu einem ständigen Aufbegehren gegen die verbotenen Gefühle führt. Doch WEIß niemals in der Lage, SCHWARZ ganz und gar zu besiegen, SCHWARZ kann nur verlangsamt, nie aber vollends aufgehalten werden: »Höchstens bist du [Weiß] zu einem schmachvollen Remis gekommen – dem Klang von einem Schuß, oder dem Platschen, wie wenn ein Körper ins Wasser fällt, oder den schweren Atemzügen von jemand, der schläft und schläft, ohne jemals wieder zu erwachen. […] Ich bin der Blitz, ich bin der Sturm, der Berge und Wälder hinwegreißt, aber sperrst du den Weg, werde ich zum Erdbeben, das die Erde aufwühlt und die Städte erschüttert. […] Ich bin der Kern des Willens. Ich bin das, was vorantreibt. Du bist das Hindern, das, was zurückhält! Du bist das zähe Nein! Sperr mich ein, dann rase ich nach innen. Laß mich los – dann werde ich die Erde erschüttern! Aber wenn du mich erstickst – nenne ich dich den Tod!«9Boye, Karin: wie Anm. 6, S. S. 28f.

SCHWARZ beschreibt die Erkenntnis, dass sich die »verbotenen« Gefühle nicht wegarbeiten lassen, aber dass sie in einem solchen Maß unterdrückt werden können, dass ohne Befreiung der einzige Ausweg aus dem Leiden der Tod bleibt. Doch der Drang, in Symbiose mit sich selbst zu leben, bricht aus Malin, unterstützt durch das Prinzip SCHWARZ, mit Orkanstärke 10 heraus, und der verbissene Kampf, den WEIß und SCHWARZ in ihrem Inneren austragen, zeichnet sich in jedem Weinkrampf, jedem winzigen Ausbruchsversuch ab. Sie spürt die Enge, das gesellschaftliche Korsett, das ihr die Brust zuschnürt, die Angst ihrer Umgebung vor dem reinen Gefühl, vor dem, was »Anders« ist.

»Gewiss tut es weh wenn Knospen springen«

Reihe

Die ausgetretenen Pfade des literarischen Kanons verlassend setzen die Autor*innen dieser Reihe sich mit Dichterinnen, Denkerinnen, Schriftstellerinnen auseinander, deren Werke oft ganz zu Unrecht im Schatten kanonischer Texte liegen und hier in Teilen neu entdeckt werden können. Weitere Beiträge folgen hier.

Malin droht zu ersticken, im luftleeren Raum der Regeln, der Verhaltensmuster, der ausgesprochenen und impliziten Normen und Konventionen, die sie umgeben und umspannen wie die Knospenhülle die Blüte oder das Ei ein Vogeljunges. In einem Akt von Verzweiflung, tiefem, inneren Drang und unbändiger Kraft durchbricht sie die »schützende« Haut, zerstört eine Welt, um in einer neuen, farbenfrohen eine Art von Freiheit zu erleben. Malin bricht nach einigen Jahren der zahmen Unterwerfung aus der seelischen Gefangenschaft aus. Das Zu-Sich-Selbst-Finden, schließlich auch in sexueller Hinsicht, ist ein gewaltiges, widersprüchliches Streben, aber es ist auch eine Befreiung. Boye zeigt, dass es niemals eine einfache Aufgabe ist, ein neues Leben zu beginnen, das eigene Ich zu bejahen. Und Malin wird klar, dass sie sich nur wahrhaftig ernstnehmen kann, wenn sie sich annimmt, und zwar ganz und gar. Fortan ist die einzige Instanz, die sie leitet und regiert, sie selbst. Ihr gehört nun die Fülle des Lebens. Siv, oder das Sehen von Siv, hat Malin daran erinnert, dass sie sich selbst noch nicht kannte, eher schlafwandelnd durch das Leben geisterte. Jetzt ist sie geweckt worden, ist dabei, Mensch zu werden, bereit, ihrer Zukunft zu begegnen, nicht länger mit geduldiger Unterwerfung, sondern mit eigenem Willen. Sie ist bereit, ihr Leben zu gewinnen, es sich zu erkämpfen, wie eine Beute.

Die vielen verschiedenen Stimmen im Roman beschreiben jede für sich in entgegengesetzte Richtungen fließende Vorstellungen über Sexualität, Moral, Lebensführung. Das letzte Wort bekommt jedoch eine Figur mit Namen »sanftmütige Person« kurz vor Ende des Romans. Sie denkt auf eine Weise, die an die rebellische Malin erinnert: »wir müssen uns unserer Sehnsucht anvertrauen. Mit Furcht und Widerstand finden wir nichts, auf keinem Weg. Mit Liebe finden wir alles, auf allen Wegen.«10Ebd., S. 174.

Krisis und neue semantische Räume für gleichgeschlechtliche Liebe

Explizit wird das Wort »Homosexualität« im Roman an keiner Stelle geäußert. »Homosexualität« und semantisch eng verwandte Ausdrücke sind zu Karin Boyes Zeit so dicht mit Heteronormativität und Homophobie beladen, dass Malin sie nicht zu gebrauchen vermag. Als die Krise am wildesten in Malin wütet, kämpft sie nicht nur mit den ungebändigten Gefühlen, sondern auch mit Worten: »Ich will Siv sehen. Ich will dahin, wo Siv ist. Was war das! War das nicht — Sie [Malin] schloß fest ihren Mund, um sich vor weiteren Worten zu schützen. Sie führten in die Irre, sie wollte sie nicht wissen.«11Ebd., S. S. 98.

Malin bejaht das, was sie für Siv empfindet, distanziert sich jedoch von den damals üblichen Bezeichnungen für solche Gefühle, denn sie führen die Gedanken in eine Richtung, die das, was Malin erlebt und erfährt, nicht adäquat zu spiegeln vermag. So weigert sich ihre Zunge, diese Worte auszusprechen: »Gib ihm keinen Namen, laß es sein, wie es ist, in meinem Blut und meinen Augen, als Saft und Leben! Die Wunder der Neuschöpfung brauchen keine Namen.«12Ebd., S. 99.

Das Vermeiden des Wortes »Homosexualität« zielt also nicht darauf ab, und das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, das »Verbotene« zu tarnen, sondern folgt einer anderen, verwegeneren literarischen Strategie: Es geht darum, vom »Verbotenen« zu schreiben, ohne homophobe Diskurse zu reproduzieren. Boye vermeidet die klinischen, moralisierenden, distanzierenden, vor Verachtung triefenden Worte ihrer Zeit und unterläuft die normativen Gedankenkonglomerate, sowohl die religiös motivierten der Kirche als auch die vermeintlich wissenschaftlichen, die das Denken im Hier und Jetzt des Textes und des Schreibens dominieren.13Borgström, Eva: wie Anm. 1, S. 225. Die Autorin zerstört alte Semantiken und schafft so Platz für neue Gedanken, neue Wertungen und neue Gefühlswelten. In diesem progressiven Umgang mit mehr als fragwürdigen Normkonzepten liegt der große Wert ihres literarischen Wirkens. Im Zuge künftiger Umgestaltungen literarischer Kanones täte man gut daran, Boyes wichtige Werke mit zu berücksichtigen.

Die Leere mit neuer Bedeutung füllen

Die Frage nach der (existierenden und vorstellbaren) Gestalt von Moral formt den roten Faden, der die Vielschichtigkeit des Romans durchzieht. Doch lassen wir Malin zu Wort kommen. Mit beinahe lyrischer Intensität sagt sie etwas, das den Kern des Romans nicht präziser und schöner einfangen könnte: »In der Nacht ging Gott unter. Vielleicht war es eine leere Namenskruste, die unterging. Aber die Namenskruste brachte Mächte des Todes hervor. Ich werfe das ab. Ich sehe die Dinge. Sie erkennen ihre Namen nicht. Ich werfe ihre Namen ab. Ich stehe vollkommen neu am Strande eines Meeres, und das Gewissen ist nicht länger meins. Ich werfe es ab. Der Wille zum Leben hat mich entblößt. Der Wille zum Leben hat mich sehend gemacht. Was immer kommen mag, dem werde ich mit bloßen, sehenden Augen begegnen.«14Boye, Karin: wie Anm. 6, S. S. 104.

Gleichgeschlechtliche Liebe war jahrzehntelang die Liebe, die ihren Namen nicht auszusprechen wagte. Bis 1944 gesetzlich verboten, war sie auch in der Kultur tabuisiert. Das Verbot führte zu Spannungen, mit denen die Kunst und die Literatur spielen konnten. Karin Boye verdeutlicht das Bedürfnis nach Distanz gegenüber der Macht unterdrückender und verschmähender Worte. In Krisis fordert sie, dem Neuen mit neuen Worten und wachem, bloßen, unvoreingenommenem Blick zu begegnen.

Boyes Antwort auf den und Alternative zu dem Berg an Gesetzen, Vorstellungen, Regeln, Institutionen, Rollen, Kategorien, Werten und Begriffen, die gleichgeschlechtliche Liebe marginalisieren, klingt einfach und schön: »Wir müssen uns unserer Sehnsucht anvertrauen.« Und so kann ein neuer Frühling, ein neues Leben anbrechen. Die Neuanfangs-Metaphorik aus dem eingangs zitierten Gedicht Gewiss tut es weh wiederholt sich in Malins Schlussgesang auf der letzten Buchseite: »Jeder Winter hat einen Lenz, eine Hoffnung hat jeder Herbst, und jede Nacht wird im Morgen vergehn. Ich glaub an die Sonne und der Rosen Stimme ganz fest, und der Wiesen lieblichen Lenz werd ich sehn.«15Ebd., S. S. 179. Malins neues Glaubensbekenntnis speist sich aus dem ewigen, zähen Willen des Lebens. Gleichwohl steckt hinter dieser Einfachheit eine komplexe und schmerzhafte Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an Hindernissen und Spannungen. Karin Boye entwirft eine hochqualitative Poetik, die mit Konzepten von Polyphonie und Dekonstruktion unhaltbaren gesellschaftlichen Praktiken die Stirn bietet und ihnen progressive Semantiken entgegensetzt und hat deshalb eine breite Leser*innenschaft verdient.

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