So makelhaft wie erhaben

Aus der Beschimpfung »Erbsenzähler« extrahiert Gertraud Klemm die Bedeutungen »spießig« und »penibel« und entwirft daraus eine neue Metapher. Erbsenzählen als Tätigkeit beschreibt hier das Bilanzieren von Lebensläufen. Der Roman erzählt vom Versuch der Antiheldin Annika, sich dem zu verwehren.

Von Eva Tanita Kraaz

Bild: stevepb via PIXNIO / CCO

Sicher ist das ein albernes Bild (das die Rezensentin ähnlich gebetsmühlenartig benutzen wird, wie Gertraud Klemm es tut): Erbsen zählen. Immer wenn ein Meilenstein des Lebenswegs erreicht ist, darf eine Erbse von der Soll- auf die Habenseite wandern. Buch darüber führen am penibelsten Annikas Eltern. Der Sprössling und seine Erfolge wollen schließlich überwacht sein. Jetzt, wo Annika, ihres Zeichens erfolglose Kunstgeschichtsstudentin und Kellnerin, Ende zwanzig, allerdings mit einem doppelt so alten Kulturredakteur eine Affäre beginnt, gibt es wenig Erbsen zu zählen: Keine Hochzeit, keine Enkel, keine Sprossen auf der Karriereleiter, die erklommen werden möchten.

Die Erbsen der Anderen

In der halbherzig kaschierten Enttäuschung der Eltern darüber entfaltet Annika scheinbar ihre Freiheit. Während ihre Altersgenossinnen sich mit Ehegelübden an dicker werdende, finanziell ergebnislose Männer gekettet haben, lässt sie sich von einem älteren Herren aushalten und mit teurer Kleidung beschenken. Keineswegs geht es Annika dabei um Daddy Issues! Es geht ihr um das Ignorieren gesellschaftlicher Erwartungen. Es geht um die gepflegte Ambitionslosigkeit als Lebensentwurf.

Das eher unoriginelle Setting gewinnt an Reiz durch die unausweichliche Ironie: Gerade die Inszenierung der Protagonistin als schicker Nichtsnutz funktioniert nur in fachkundiger Abgrenzung zur strebsamen Masse. Folgerichtig ist Annika die wohl akribischste Erbsenzählerin. Mit mitleidigem Zynismus blickt sie auf die Bilanzen verschiedener Lebensläufe herab. Vor ihrem Scharfsinn gefeit ist weder die Generation Z, noch ein alternd-testosterongesteuerter Kulturbetrieb, noch sind es die gleichaltrigen Familiengründerinnen.

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Gertraud Klemm
Erbsenzählen

Droschl Verlag 2017
160 Seiten, 19€

Die eigene schnöde Erbsenhaftigkeit

Allerdings bedarf es dabei schon ihrer besonderen Selbstgerechtigkeit, wenn Annika die Eifersucht einer mittelalten Lehrerin auf die von ihrem als Literaturprofessor tätigen Ehemann ausgewählte Nachwuchsliteraturpreisträgerin in Gedanken als unfeministisch aburteilt, obwohl sie selbst nur als junges, hübsches und sehr stilles Plus One mit am Tisch sitzt. Darin liegt ein simpler wie kluger Kniff des Romans. Weder Gedanken noch wörtliche Rede sind durch Anführungszeichen markiert; was was ist, ergibt sich kontextuell. Annikas Mitmenschen haben also selten an ihren Einschätzungen teil, während die Leserin schon deren irritierte Reaktion auf sie antizipiert. Würde die Protagonistin jeden Gedanken aussprechen statt wohlgefällig zu schweigen, so die Vermutung, hätte sie sich längst in das Affäre-Aus gespielt. Als »meine schöne Stille« geliebt zu werden, ist zwar mit ihrem hypothetischen Feminismus wohl eher nicht zu vereinbaren, stumpf fügt sie sich trotzdem selbst als Erbse im schablonenhaften Lebensentwurf ihres Liebhabers ein. Naturgemäß dann irgendwann doch eine schwierige Konstellation.

Stolze Inkonsequenz!

Es ist genau diese vorerst resiliente Inkonsequenz, aus der die sympathische Skurrilität der Hauptperson herausblüht. Eine Auszeichnung verdient Gertraud Klemm also nicht für die halbgare aber offensichtlich extrem fruchtbare Titelgebung oder die vermeintliche Analysebegabung der Protagonistin, die letztlich hauptsächlich in öden Klischees wühlt: Sie macht es ihrer Hauptfigur wahrlich nicht schwer, ihren Spitznamen »die Stieftussi« als geistlos zu entlarven, und selbst vor fadem Veganer- oder Helikoptererziehungs-Bashing macht sie nicht halt. Nein, reizvoll ist vor allem die Figurenzeichnung der Antiheldin, deren selbstgefällige Denke erheitert. Statt sich selbstmitleidiger Larmoyanz hinzugeben, behält sie sogar im Angesicht ihrer Chlamydien-Infektion ihre Souveränität bei. Abgeklärt sinniert sie:

»Der Arzt hat recht, man gewöhnt sich an das Wort Geschlechtskrankheit. Eine Geschlechtskrankheit ist in Wirklichkeit so banal wie ein Schnupfen. Der Schrecken nach der Diagnose ist verpufft.«

In einer umgekehrten Welt wäre sicher auch das eine Erbse auf der Habenseite: Die erste Geschlechtskrankheit.
Die hätte auch Hannah Horvath, die Protagonistin der HBO-Serie Girls schon zählen können. In der dritten Folge der ersten Staffel erfährt sie von ihrer HPV-Infektion. Nach kurzer Bestürzungsphase und Beratung mit Freundin Jessa tweetet sie allerdings: »all adventurous women do.« ‒ meint: Alle abenteuerlustigen Frauen sind mit HPV infiziert. Das postfeministische Beharren darauf, die eigene Charakterentwicklung genauso makelhaft wie unverfroren begehen zu wollen, ist mit Sicherheit kein neuer Gedanke. Nicht nur Helen Memel, die Protagonistin der Feuchtgebiete, auch die Hauptfiguren von Gertraud Klemms Vorgängerromanen müssen keine pathetische Katharsis zur feministischen Musterschülerin durchlaufen. Erbsenzählen reiht sich also in Klemm’scher Manier in diese Darstellung ein. Der trocken bis stoische Humor der Hauptfigur trägt die Idee dabei ein unterhaltsames Stück weiter.

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