Süffisanz und Wahrheit

Zwischen Wahrheitsliebe und Selbstgerechtigkeit, zwischen Philantrophie und Menschenhass liegen beträchtliche Grauzonen, bedeutet das diese Saison im DT Göttingen uraufgeführte Stück Fräulein Agnes. Sich der gnadenlosen Ehrlichkeit zu verschreiben mag dabei durchaus unangenehme Nebenwirkungen haben.

Von Eva Tanita Kraaz

Fotos: © Georges Pauly
Auf dem Titelbild: Felicitas Madl, Angelika Fornell, Florian Eppinger, Florian Donath, Rebecca Klingenberg, Christoph Türkay

Agnes (Rebecca Klingenberg) ist der Mittelpunkt. Nicht räumlich gesehen. Eigentlich steht sie eher links auf der Bühne, als der Vorhang sich erhebt. Passend zur Musik – aggressiver Techno – tanzt aber das 7-köpfige Bühnenpersonal unkontrolliert zuckend auf sie zu, sodass sie quasi umzingelt ist. Dergestalt auserkoren, bleibt sie folgerichtig als Einzige stehen, wenn die Musik aussetzt. An den vorderen Bühnenrand geschritten, vor gefallenem Vorhang, gibt sie sich dem Crescendo einer mehrminütigen Tirade hin. Erst nach dem Fortissimo des atemlosen »Ich habe die ganze Menschheit satt!« macht sie halt.

Agnes, großmütige Gönnerin

Was für ein Auftakt für das zweite Stück, das Rebekka Kricheldorf nach Homo Empathicus für das Deutsche Theater Göttingen geschrieben hat. Führte sie in letzterem noch die Maxime der Rücksicht ad absurdum, setzt sie hier eindrucksvoll das Thema Hass. Gekoppelt ist die Empfindung ganz klar an die Figur der Agnes, die ihre Gefühlslage selbst als emphatische Wahrheitsverpflichtung ausdeutet. Als »Fräulein Agnes« betreibt sie einen Kulturblog, der sich beißend mit Kunst- und Literaturbetrieb auseinandersetzt. Das ist derselbe Kunst- und Literaturbetrieb, den sie, personifiziert durch einzelne Stellvertreter, täglich in den eigenen vier Wänden ihrer schmucken Altbauwohnung kritisiert. Als großmütige Gönnerin gewährt sie ihnen allen, egal ob nun finanziell oder emotional geschröpft, Unterschlupf.

Der idealistische Sohn, die skeptische Mutter: Marius Ahrendt, Rebecca Klingenberg. Foto: © Georges Pauly

Die Anlage dieser Figuren macht es der Bloggerin leicht, ihre Fehler aufzudecken: Zu ihren Mitbewohnern gehört beispielsweise ihr Sohn (gespielt von Marius Ahrendt). Orlando, der Frontmann seiner Schnulz-Pop-Rock-Band »Die Orlandos«, fleht sie um eine Besprechung seines neuen Albums an. Ihre Freundin Fanny (gespielt von Angelika Fornell) hat ihren studentischen Idealismus einer irrelevanten, aber beliebten Lifestyle-Kolumne geopfert. Die vermeintlichen Geliebten ihres unbedarften Liebhabers Sascha (gespielt von Christoph Türkay) Annabelle und Cordula (gespielt von Gaia Vogel und Felicitas Madl) hingegen scheuen sich nicht, die Privilegien der westlichen Welt in nachdrücklichem Entrüstungsduktus in ihren Drehbüchern anzuprangern. Obwohl sie sich in H&M kleiden, das Coltan ihrer Smartphones aus kruden Quellen bezogen wird und für das Palmöl ihres Lippenstifts brennende Orang-Utans billigend in Kauf genommen werden.

Allesamt verlogene Schnösel also, die sich eine Abreibung redlich verdient haben. So muss wohl auch das Publikum denken, das jede trefflich-ungnädige und zugleich vorhersagbare Kritik Agnes‘ mit Lachsalven quittiert – wobei die Einschätzung »Exakt diese Einstellung ist der direkte Weg zu Hitler!« wahrscheinlich in fast jedem Kontext eine übersprunghafte »Darf er das!?«-Pointe erzielt.

Agnes, wahrhaftes Wunderkind

Besagte Ungnade allerdings ist psychologisch motiviert. Mit Mitte zwanzig wurde Agnes´ Romandebüt veröffentlicht. Ihrem Erfolg steht sie skeptisch gegenüber. Sie fühlt sich vom Buchmarkt betrogen. Es gehe dort ausschließlich profitorientiert zu, sodass sie eine Art Opfer der Fräulein-Wunder-Marketing-Masche wurde. Ihr 700-Seiter, so misst sie an ihren eigenen Vorstellungen von literarischer Qualität, wäre von der Kritik nie ohne Erwähnung ihres Geschlechts und ihres Alters erfolgreich gewesen. »Mensch ohne Penis schreibt gutes Buch!«, karikiert sie deren Duktus. Fortan inszeniert sie sich als heroischen Gegenentwurf der etablierten Literaturkritik: allein ihrer eigenen moralischen Integrität verpflichtet.

»Ich bin nicht frustriert, ich bin anspruchsvoll!« muss deshalb auch ihre angemessene Verteidigung der eigenen Person lauten. Ausgezeichnet verleiht Rebecca Klingenberg mit hochmutgetränkter Stimme und herablassendem Gestus solchen Zeilen gerade das richtige Maß an Süffisanz und erregt so die gerechtfertigte Abscheu gegenüber der Figur der Agnes. Auf diese Weise wird auch das Publikum zu Süffisanz gezwungen, denn – so besagt das alte Sprichwort schließlich – Hochmut kommt vor dem Fall: Agnes‘ Ungnade wird gebrochen. Die Figur wird ambivalent. Ausgerechnet der abgeschmackte Wunsch der Stadtflucht als Verzweisamungsparadies macht sie ihrem prätentiösen Lover gegenüber weich.

Agnes, selbstgerechte Soziopathin

Dergestalt verwirrt sich im Folgenden katastrophal Wahrheitsliebe mit Dünkel und Selbstgefälligkeit. Die Protagonistin beraubt sich dem Schein ihrer Integrität und infolgedessen auch jeglicher Autorität und Glaubwürdigkeit. Einer anderen Figur allerdings wird zugestanden, sich als »Bräutigam der Wahrheit« zu bezeichnen: dem Narren. Der mit dem sprechenden Namen Elias Beschiedene (gespielt von Florian Donath) betapst bis zum Schluss halbnackig die Bühne, um mit neutestamentesken Gleichnissen Szenen auszudeuten, beziehungsweise das Restpersonal zu befremden.

Die rigorose Wahrheitsverpflichtung bleibt damit als heikler Anspruch stehen. Sicher ist die Verhandlung dieser Kategorien fern davon, irgendwas auszuloten. Auch erkenntnisschwanger lässt sich das Stück kaum nennen. Die Verwirrung ist nichtsdestoweniger eine fruchtbare und gewinnt an albernem Charme des Kulturbetriebsklüngels. Die menschliche Fehlbarkeit als Faktor ad absurdum führend, wird nüchtern geschlossen: mit dem Gegenbild zur Anfangsszene. Agnes‘ Schar steht um sie herum, ihr abgewandt. Keiner tanzt mehr. Die letzten epileptischen Tanzversuche stammen von Agnes alleine und bleiben ohne musikalische Untermalung. Es folgt nur noch ihre zweite Hasstirade. Ganz genau wie zu Beginn hat sie es noch immer satt, dass die Menschen die offensichtlichen Gründe für ihr Unglück nicht erkennen – ohne sich selbst als blinden Fleck zu verlieren.

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