Der Luxus von einem Glas Wasser

Mit Lina Atfah und Jan Wagner beginnt das Frühjahrsprogramm des Literarischen Zentrums Göttingen. Zwischen Gedichten über Gemüse und Gesprächen über die Übersetzungsmöglichkeiten von Lyrik wird viel gelacht. Es geht aber auch um Krieg, Flucht und das Fußfassen der syrischen Dichterin in Deutschland. Am Ende gibt es ein Selfie mit dem Publikum.

Von Svenja Brand

Bild: Aaron Kilian Mayer

Köstliche Kost und harte Gespräche

Grabtuch aus Schmetterlingen heißt Lina Atfahs zuletzt erschienener Gedichtband (Pendragon 2022), Steine & Erden derjenige von Jan Wagner (Hanser 2023). Wer von den Titeln auf einen belastend schweren Abend schließt, wird überrascht von dem Lyrik-Duo, das auf dem Podium im Literaturhaus Platz nimmt. Stellenweise wird es ernst und auch berührend, vor allem aber wird viel und anhaltend gelacht. Und das Publikum lässt sich gern anstecken.

Wagner und Atfah haben sich 2017 kennengelernt, wie sie in Wechselrede berichten, in Edenkoben in der Pfalz. Sie schwärmen nicht nur von dem Programm »Poesie der Nachbarn«, das dort in jenem Jahr sechs syrische und sechs deutsche Dichter:innen mitten in den Weinbergen zusammenbrachte, um mit der Hilfe von Übersetzer:innen die syrischen Texte ins Deutsche zu übertragen. Wagner erzählt auch mit großem Enthusiasmus von den Weinblättern, die Atfah sammelte, um sie mit Reis zu füllen – »eine syrische Spezialität mit Pfälzer Weinblättern« –, und davon, wie sie ihm im Zwiegespräch beim Füllen der Blätter Antworten auf Fragen zu den Hintergründen ihrer Gedichte gab: zu Krieg, Flucht und Tod. Das Leichte, Köstliche neben dem Harten, Schweren. Programmatisch könnte das über dem gesamten Abend am 6. Februar im Literaturhaus stehen. »War es lecker?«, will Atfah dann auch lachend wissen, während Wagner noch mit Freude im poetisch Aufgeladenen des gesprächsschweren Weinblätterfüllens schwelgt – Lachen des Publikums, Wagner meint, es sei sehr schmackhaft gewesen.

Die Rückseite vom Teppich oder: Lyrik als Psychotherapie

Dann geht es konkreter um Herausforderungen bei der Lyrikübersetzung. Lyrik sei deshalb so besonders schwierig zu übersetzen, weil eine interlineare Wort-für-Wort-Übersetzung den intensiven Ideen, sprachlichen Bildern, dem Klang und Geheimnis der Originalsprache nicht gerecht würde. Eine solche Interlinearübersetzung sei wie »die Rückseite vom Teppich«, findet Atfah ein eindrückliches Bild – eine Knüpfstruktur also, anhand derer sich das Format des Teppichs ablesen lässt, aber von der nur ahnungsweise etwas über die Farbigkeit und das Muster auf der Vorderseite abgeleitet werden kann. Um Lyrik zu übersetzen, brauche es also Lyriker:innen, meint Atfah. Und um den »Geist des Originals« zu verstehen, gelte es, die »Seele« der Dichterin kennenzulernen: »Jan Wagner versteht meine Texte.« Wie eine Psychotherapie sei Lyrik, sei das Gespräch über Lyrik deshalb auch, und Wagner sei ihr »Seelenjäger«. Nach ähnlichen ›Therapiesitzungen‹ sei die Übersetzung und Nachdichtung von Atfahs aktuellem Band durch Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi zustande gekommen. Es blieben ihre Gedichte, aber Oleschinski vermöge es, ihr eine deutsche Stimme zu geben.

Wertschätzend und sympathisch-engagiert ist das Gespräch zwischen Wagner und Atfah, und immer wieder lacht die Dichterin. Sie lacht herzlich und haltlos ansteckend. Als es aber um das Lesen ihrer Gedichte geht, wirkt sie wie ausgewechselt.

Die mit den Händen spricht

Resolut, dann beschwörend, mit raumfüllender, ausdrucksstarker Stimme oder sehr weich und melodiös trägt Atfah ihre Gedichte im arabischen Original vor. Wie ein eigenes Dirigat begleiten sie dabei ihre Hände, akzentuieren Gesagtes, verleihen ihm Form. Mal sanft und fließend, mal in einer scharfen Schnittbewegung, mit einem leisen Klatschen oder einem Fingerschnippen. Auch wer die Worte nicht versteht, wird in ihren Bann gezogen. Das Verständnis für das deutschsprachige Publikum sichert Schauspielerin Imme Beccard, die mit klarer und ruhiger Stimme Atfahs Texte in Übersetzung liest. Da geht es in »2020« um Corona und Hygieneregeln und in »Gehorsam« um weibliches Verhalten vor der Kameralinse eines Fotografen. Es geht aber auch um Bedrohliches, um häusliche Gewalt und eine krachende »Entschuldigung«, um gewaltvoll genommenes Leben und schmerzvolle und doch auch heilsame »Rückkehr«.

Bevor Wagner – klangvoll und humorvoll-leichtfüßig – aus seinem Band vorträgt, führt er elegant und mit Sprachwitz an seine Gedichte heran: Die Form des Ghasels etwa könne monoton wirken, da es in jedem zweiten Halbvers von zwei zusammengehörigen Verszeilen ein stets gleiches (Reim-)Wort vom Anfang des Gedichts wiederholt. Sie könne aber auch besonders passend sein, wenn man wie Wagner für seine »krähenghasele« eben »viele Krähen braucht«. Wagner spielt klug mit Sprache und Klang, gekonnt und formvollendet, anspielungsreich und mit einem Blick, der das Schöne, Große im nur scheinbar Profanen findet. Karotten werden hier zu »lehmlaternen«, es gibt eine »angel-ode für onkel adi«, an anderer Stelle erläutert das – tatsächlich historische – »königliche botanikbataillon […] seine strategie«. Das Publikum geht mit, spendet für Wagner, Atfah und Beccard lauten Applaus.

»Weiter Schreiben«, Traurigkeit und Humor

Zum Ende des Abends hin sprechen Atfah und Wagner über die Bedeutung des Projekts »Weiter Schreiben«, das den Hintergrund ihres gemeinsamen Lesens im Literaturhaus bildet. »Weiter Schreiben« bietet Autor:innen aus Krisengebieten im Exil eine Plattform für ihre Literatur, ihr Weiterschreiben eben, indem sie in einem Tandem mit einem:einer arrivierten deutschsprachigen Schriftsteller:in zusammenkommen. So Atfah etwa mit der georgisch-deutschen Autorin Nino Haratischwili. Dass das Exil, neue Lebensumstände und sich wandelnde Sichtweisen ein wichtiges Thema auch von Atfahs Schreiben sind, liegt nahe. So erzählt sie, dass mit ›großer‹, gewichtiger Lyrik in Syrien immer auch Traurigkeit verbunden sei: »Wir mögen Traurigkeit«. In Deutschland habe sie entdeckt, dass ein Gedicht auch Leichtigkeit und Humor haben dürfe. Deshalb versuche sie, mit ihrer Lyrik zum Lachen zu bringen: »Tränen sind einfach in Lyrik, Lachen ist schwerer«. Dass Leichtigkeit und das Sehen kleiner Dinge aber auch ein Luxus sind, wird an einem Glas Wasser deutlich, das vor Atfah neben ihrem Mikrofon steht. In Syrien sei Wasser für sie mit Schmerz konnotiert. Sie erzählt, wie sie gemeinsam mit ihrer Schwester – die ebenfalls im Saal ist und Atfah auf Zuruf immer mal wieder bei der Übersetzung eines Wortes hilft – darauf gehofft habe, nachts Wasser sammeln zu können, das es nur einmal im Monat verlässlich gab. »In Deutschland ist das anders« – Wasser ist hier Selbstverständlichkeit: »Es gibt einen Kanal in Wanne-Eickel«, dem Ort im Ruhrgebiet, an dem Atfah jetzt lebt. So sei ein Gedicht über ein Glas Wasser für sie in Deutschland ganz anders denkbar als in Syrien. Von Wagner gefragt, ob sie denn so ein Gedicht über den Bedeutungswandel von Wasser schon geschrieben habe, verneint Atfah: »Aber das werde ich jetzt machen!«

Dass Leichtes neben Schwerem (be)stehen darf, führen Lina Atfah und Jan Wagner überzeugend vor. Ein letztes Gedicht Atfahs lesen sie im Duett, bevor Atfah noch um ein Selfie mit dem Publikum bittet. Der Abend zeigt, was Lyrik kann: Disparates zusammendenken und »Seelen« einander nahebringen, Einblicke in scheinbar ungekannte Sprach- und Lebenswelten eröffnen und dabei etwas Vertrautes in den Lesenden oder Zuhörenden ansprechen. So bleibt, auf Lina Atfahs Gedicht über das Glas Wasser zu warten und in der Zwischenzeit in Steine & Erden und Grabtuch mit Schmetterlingen von Schwerem, aber auch von Leichtem zu lesen.

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