Eine Hüpfburg, ein Zug

Mit Wortgewitztheit und augenzwinkender Freude an Sprache erforscht die Übersetzerin Uljana Wolf in Etymologischer Gossip die translingualen Möglichkeiten von Lyrik und Sprache. Dabei verliert sie nie die imminent politische Bedeutung von Grenzräumen und sprachlichen Differenzen aus den Augen.

Von Emily Lüter

Bild: Via Pixabay, CC0

Bereits 1916 beschreibt der russische Formalist Viktor Šklovskij, dass die Kunst ein Verfahren der Verfremdung sei, das die zunehmend automatisierte Wahrnehmung unserer Welt entautomatisiert. Dass dieser Zugang zu Kunst und Literatur noch immer aktuell und aktualisierbar ist, zeigt Uljana Wolf in Etymologischer Gossip, einer Sammlung von Essays, Guessays (eine Hybridform des »Essays« und des Englischen »to guess«, mit der Wolf gerne spielt) und Reden aus 13 Jahren Schaffenszeit, die den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Essayistik gewonnen hat. Entautomatisierungsstrategien, anti-nationales Übersetzen und die Grenzräumen poetischer Sprache bilden den Kern ihrer Diskussion, die Sprache aus dem Rahmen alltäglicher Nutzung schüttelt. Die politischen Dimensionen von Lyrik und translingualen Begegnungen im Text ziehen sich als One-Line-Faden durch die Sammlung, die in kreisförmigen Bewegungen das einzufangen versucht, was Sprache als System ausmacht.

Sprache im Zielbahnhof

Uljana Wolf, die nach ihrem Studium der Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft als Lyrikerin und Übersetzerin tätig ist, nähert sich der übersetzenden Tätigkeit in Metaphern und Vergleichen, spielt wort-lustig und wort-listig mit dem Material der Buchstaben und mit Homophonien. Sie beschreibt das Übersetzen einerseits als eine Hüpfburg, in der die Übersetzerin eine Landschaft in einer Landschaft erkundet, einen Raum, von dem sie immer wieder abprallt, landet und neue Perspektiven gewinnt. Das Übersetzen sei andererseits wie das Zugfahren, ein Zustand zwischen Anfangs- und Zielbahnhof, ein In-der-Schwebe-Erkunden. Übersetzen bei Wolf ist auch immer ein Sich-Finden im Fremdwerdungsprozess durch die Zielsprache, die als Spiegel das eigene Sprechen Wunderland-ähnlich verzerrt.

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Uljana Wolf
Etymologischer Gossip. Reden und Essays

kookbooks: Berlin 2020
200 Seiten, 22,00€

Wolf betont, dass das Übertragen von einer Sprache in eine andere zwischen den Räumen stattfindet und etwas Fluides sei. Die Sprachgrenzen der Übersetzung schlagen Falten und erzeugen überlappende Bedeutungen gleich einem Palimpsest, in dem zwei Texte übereinander liegen. Sie kreieren einen Raum des Austausches, der gleichzeitig in beiden Sprachen und auf einer dritten Ebene stattfindet. Gleichzeitig existiert dieser Raum im Anderen, in der Sprache des Zielbahnhofs, von dem aus die Ausgangssprache ebenfalls verrückt wird. Die Selbstverständlichkeit der eigenen Sprache wird dekonstruiert durch das Beschäftigen mit dem Übersetzen ins Andere, das nicht unbedingt nur eine andere Sprache ist:

Als wäre die Möglichkeit, jenes und zugleich ein Anderes zu sein, ein Grundrecht, das ich nicht nur im Übersetzen – im Dichten mit Zielsprache -, sondern auch im Dichten – im Übersetzen ohne gesicherte Zielsprache – zu praktizieren versuche.

Dirty Bird

In Dirty Bird Translation beschäftigt Wolf sich vor allem mit der Materialität von Lyrik, das Weiß des Papiers, die Zwischenräume, die Atempausen. Von Sappho bis Elizabeth Barrett-Browning fasziniert sie der Zugdrang von Gedichten, die wie Vögel aus den Händen der Autor:innen fliegen wollen und Bedeutung zwischen den schwarzen Buchstaben erzeugen. In Erasure (die Methode des Weissens und Ausradierens gedruckter Texte, um auf dem Papier neue Bedeutungsräume zu öffnen) sieht sie die Möglichkeit, die vielen vergrabenen Worte und Möglichkeiten anzudeuten, die nicht entfaltet werden – das fertige Werk unfertig zu machen. Gefangene Texte werden frei und breiten die Flügel aus, bricht man ihre gedruckte Stasis auf. Die Schatten der gebleichten Wörter sind dabei ein doppelter Boden der Bedeutung:

Was aber wirft die Schatten? Der Text, der stehen bleibt? Was er sich von der Vergangenheit borgt, die Möglichkeit, dass es auch anders gewesen, gelesen sein könnte, fällt in hellen Scharen um die wenigen Worte, wie von einem durch die Zeit verstreuten Licht umstellt. Oder werfen die ehemaligen Worte, die jetzt unter weißen Deckchen liegen wie unter Schnee, Spitzen, weißem Schlaf, ihre allmöglichen, unlesbaren Schatten?

Die One-Line-Katze auf dem Cover der Essaysammlung erinnert an Jacques Derridas Katze und das nicht zufällig. Wolfs Argumentationsweisen und Sprachverwebungen ähneln in ihrer Wortfreude und Selbstreferenzialität dem Philosophen, der wie sie die Hegemonialsysteme von Sprache dekonstruiert und in gedanklichen Schleifen zu neuartigen Gebilden verwebt. Uljana Wolf gliedert sich in ihrer Poetik und Politik nahtlos an die Dekonstruktion als systemkritische Haltung an und beweist wortgewandt ihre literaturwissenschaftliche Perspektive, die wie One-Line-Art alles miteinander verbindet.

Das Grenzüberschreitende

Von den Schriftstellerinnen Else Lasker-Schüler und Ilse Aichinger ist Uljana Wolf besonders fasziniert, von ihrem künstlerischen Gegenentwurf zu nationalem Denken und Schreiben während und nach dem Nationalsozialismus. Das Grenzüberschreitende der Verweigerung, einstimmige Eindeutigkeit im Text zu erzeugen und die Auslotung sprachlicher Zwischenräume nennt Wolf Anderssprachigkeit. Diese Anderssprachigkeit unterwandere das Hegemonialsystem von Sprache und erlaube einen interkulturellen Austausch mit dem Anderen, aber auch mit sich selbst. Wird die eigene Sprache entautomatisiert, wird man ihrer ent-heimatet, bricht das Kartenhaus des Nationalismus zusammen. Wolfs Hinterfragen einer richtigen, eindeutigen und sinnhaften Sprache ist politisch wirksam, anti-nationalistisch und öffnet Grenzen im Text – aber auch extratextuell im Austausch zwischen Lyriker:innen.

Die Jury begründet die Preisvergabe folgendermaßen: »Und geradezu übermütig sind Wortgewitzheit und Assoziationsfreude, mit denen Uljana Wolf ans Werk geht. Dieses Sachbuch ist nicht zuletzt ein Lachbuch: Wer wissen möchte, wie eine fröhliche Sprachwissenschaft sich liest, der hat damit die geeignete Lektüre zur Hand.« Sachbuch und Lachbuch, poetisches und politisches Manifest treffen aufeinander in Etymologischer Gossip in einer Kakophonie aus Wortfreude und Wortentfremdung. Ein Gedanke jagt den anderen, der wiederum an den vorgegangenen anknüpft; die Katze beißt sich sozusagen in den Schwanz. Schreibende und Lesende werden inspiriert, nach der Lektüre die Bausteine ihrer eigenen Sprache umzudrehen, neu zusammenzusetzen und vor allem sich spielend in Sprache zu verlieren.

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