Rollenspiel der Kulturen

Hiromi Ito zählt in Japan zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Nun erschien ihr autobiographischer Roman Dornauszieher auch auf Deutsch, der es durch Itos bewegende Erzählweise schafft, von einem Leben zwischen den Kulturen und den verschiedenen Rollen, die sie einnehmen muss, zu berichten.

Von Sofia Peslis

Bild: Via Pixabay, CC0

Dichtkunst, Humor und die unverblümte Wahrheit: Hiromi Ito gelingt in ihrem nun auch auf Deutsch veröffentlichen Roman Dornauszieher der Spagat zwischen der Beschreibung interkultureller Schwierigkeiten und alltäglicher Normalität.

Hiromi Ito, die durch ihre feministischen Werke schon früh Aufmerksamkeit in ihrem Heimatland Japan erregte und auch für Dornauszieher zwei Auszeichnungen erhielt, prägt die Erzählung autobiographisch. Die gleichnamige Protagonistin, die liebevoll von den Frauen der Familie im Dialekt von Tokyo »Shiromi« genannt wird, steht mit beiden Beinen voll im Leben. Und mit dem Leben kommen die Probleme. Sich um die pflegebedürftigen Eltern in Japan kümmern, den Sorgen der drei Kinder hingeben oder dem sich selbst bemitleidenden, sehr viel älteren Ehemann gerecht werden: Hiromi muss im Hin und Her zwischen der westlichen Welt und ihrem spirituellen Leben in Japan viele verschiedene Rollen einnehmen.

Subtiler Humor und sprachliche Raffinesse

Ungeniert und mit beeindruckender Ehrlichkeit lässt Ito die Hürden des Alltags fast schon sanft wirken. Wortspiele und intime Gedankengänge lassen die Lesenden mit der Protagonistin mitfühlen. Wiederkehrendes Thema sind die misslungene Ehe und die unzähligen damit einhergehenden Auseinandersetzungen. Hiromi und ihr Ehemann streiten sich häufig über religiöse Fragen – neben allen anderen Sorgen gibt das Hiromi den Rest, sodass ein Konflikt letztendlich in einer Beißattacke ihrerseits endet. Nonchalant stellt sie daraufhin fest: »Sie haben recht gehört, ich habe ihn ge-bis-sen!«, und spricht damit die schockierten Gedanken der Lesenden aus.

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Hiromi Ito
Dornauszieher

Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit
Matthes & Seitz: Berlin 2021
336 Seiten, 22,00€

Auch selbstkritisch erzählt Ito von unterschiedlichsten Begegnungen und ihren eigenen schlechten Gewohnheiten. Zum Beispiel die panische Angst vor dem Rechtsabbiegen: Mit einer Notlüge versucht sie zu erklären, ihr Vater habe im Testament verfügt, sie dürfe niemals rechts abbiegen, nur um daraufhin verbessert zu werden, dass dieser doch noch lebe und Pflegestufe eins beziehe. Ernste und auch belastende Lebenssituationen werden durch Itos humorvolle Schreibfeder immer wieder aufgeheitert und zeigen, dass man das Leben nicht immer ernst nehmen muss.

Kulturelle Selbstfindung

Die japanische Kultur kommt nicht nur durch den Handlungsort und die familiären Verhältnisse zum Ausdruck, sondern auch durch lyrische Elemente und Referenzen auf Mythologie. Ito baut rhythmisierte Passagen, Gedichte, Dialekte und Erzählungen gekonnt in den Roman ein, um genau das darzustellen, worum die Protagonistin kämpft: ihre Kultur. Die vielen japanischen Begriffe, die auch in der Übersetzung weiterhin im Buch bestehen, können zu Anfang das Verständnis der Handlung erschweren, doch schlussendlich unterstreicht es die Wichtigkeit der Beziehung zwischen Hiromi und Japan.  

Hiromi befindet sich in einem konstanten Konflikt zwischen westlichen und japanischen Werten, was sich gerade in der Erziehung der Kinder widerspiegelt. Oftmals verzweifelt versucht sie, gerade der jüngsten Tochter die japanische Kultur näher zu bringen, doch trifft öfter auf starke Ablehnung. Ihre eigene Beziehung mit dem Schutzgott Jizo, der eine:n buchstäblich vom »Dorn« befreien soll, wird hierbei öfter auf die Probe gestellt oder sogar neu entflammt. Dornauszieher bildet also einen Kampf um die Werte ab, die Hiromi zu der Person machen, die sie ist. Dabei ist dieser Kampf in ihrem Inneren schon längst entschieden:

Aber wenn ich mein Herz ausschütten will, möchte ich das auf Japanisch tun, genauso wie ich essen möchte, wenn ich Hunger habe.

Ob ich das mit dem Sterben wohl gut schaffe?

Ein wiederkehrendes Motiv in Hiromi Itos biographisch angehauchtem Roman ist der Tod oder vielmehr der Prozess des Sterbens. Von Anfang an werden die Lesenden schonungslos damit konfrontiert, sei es durch die kränkelnden Eltern, den dreißig Jahre älteren Ehemann, der sich einer Operation nach der nächsten unterziehen muss, oder durch Hiromi selbst, die sich im Laufe der Geschichte auch immer mehr mit ihrem Alter und somit auch mit dem Sterben auseinandersetzt. Gegen Ende wird der Frage, wie man das mit dem Sterben denn am besten schaffen sollte, sogar ein ganzes Kapitel gewidmet. Das Gespräch mit einer Dichterin, die für Hiromi als Vorbild fungiert, reflektiert Gedanken über Schmerz und Leid, die sich durch den gesamten Roman ziehen. Diese eröffnen ihr aber gleichzeitig eine neue Sichtweise auf das Leben und helfen ihr, es vielleicht gerade so zu akzeptieren, wie es ist.

Vom schmerzenden Dorn befreien

Letztendlich bietet die Übersetzung des 2007 erschienenen Romans einen anregenden Eindruck in die teils provokative, aber bewegende Geschichte einer bewundernswerten Frau in der Blüte ihres Lebens. Sie befasst sich nicht mit unrealistischen Ereignissen und Hürden, sondern mit Alltagsfragen und Problemen, mit der sich sicherlich viele Lesende identifizieren können. Das Buch regt zum kritischen Nachdenken über Sinnfragen an und gleichzeitig dazu, das Leben manchmal mit einem Augenzwinkern zu sehen. Zu guter Letzt gibt Hiromi Ito mit Dornauszieher durch ihren Humor und die erzählerische Leichtigkeit vor allem einen Funken Hoffnung. Hoffnung, dass man immer von seinem eigenen schmerzenden Dorn befreit wird.

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