Ruf der Wildnis

Baptiste Morizot streift in Die Philosophie der Wildnis hauptsächlich durch den Wald, läuft Tieren hinterher und denkt über die Welt nach. Trotz interessanter Ansätze liefert er damit insgesamt für die ökologische Philosophie nicht viel Neues.

Von Hanna Sellheim

Bild: Via Pixabay, CC0

Bevor man Baptiste Morizots Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen beginnt, steht erstmal eine Frage im Raum: Braucht der Buchmarkt noch ein weiteres Buch eines weißen, männlichen Autors, der in der Natur herumläuft? Schließlich gibt es schon Ralph Waldo Emersons Naturphilosophie, die recht ermüdend zu lesen ist, aber erträglicher wird, wenn man zeitgenössische Karikaturen des ganz zum Auge werdenden Ichs in der Natur kennt. Es gibt James Dickeys Deliverance, in dem vier junge Männer reichlich angesäuselt einen Fluss im US-amerikanischen Süden hinunterschippern und dabei die Wildnis in sich entdecken. Es gibt mehr Harzreisen, als es im Harz tatsächliche Berge gibt.

Doch dessen ist Morizot sich bewusst. Sollte er auch, unterrichtet er doch Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Die Philosophie der Wildnis reiht sich bewusst in diese philosophische Tradition ein und ist ein Versuch, unser Konstrukt von ›Natur‹ auseinanderzunehmen und uns als Menschen (und damit auch sich als Autor) stattdessen als Tiere wahrzunehmen und innerhalb eines ökosystemischen Gesamtzusammenhangs zu verorten. So weit, so interessant und relevant. Denn wie Morizot es ausdrückt, ist das »Wort ›Natur‹ […] keineswegs unschuldig; es ist das Markenzeichen einer Zivilisation, die alles daransetzt, Territorien auszubeuten, als seien sie unbelebte Materie«.

Wenig ökologische Reflektion

Das ist durchaus richtig, dennoch bleibt der Erkenntnisgewinn recht gering, denn den Ecocriticism als theoretische Strömung, die sich mit Frage von Natur und Umwelt beschäftigt, gibt es inzwischen schon ein paar Jährchen und so hat man vieles davon schon mal woanders gelesen – und dann auch noch viel unterhaltsamer. So ist nicht nur die Problematik des Natur-Konstrukts schon häufig aufgezeigt worden. Auch Morizots zentrale Idee des »ökosensiblen Spurenlesens«, des Hineinversetzens in die tierliche Perspektive, entwickelt schon Charles Foster in Being a Beast, und zwar mithilfe von reichlich britischem Humor. Und nicht zuletzt hatte Jacques Derrida schon lange vor den anderen Theoretiker:innen die Idee, seiner Katze lang und tief in die Augen zu blicken, um für ein besseres Verständnis zwischen Mensch und Tier zu sorgen. Doch irritierenderweise zitiert Morizot kaum dezidiert ökologische Theorie, sondern bleibt einer eher konservativen Tradition der Naturphilosophie verhaftet.

Denn er erzählt vor allem davon, wie er mit wechselnder Begleitung in der Natur umherspaziert und dabei diversen Tieren über den Weg läuft, woraus er seine philosophischen Überlegungen ableitet. In diesem Zug nutzt er nicht explizit Begriffe wie Ökosystem, Nachhaltigkeit oder Umwelt und bleibt konkrete Lösungsansätze für die drohende Klimakatastrophe schuldig. Stattdessen geraten seine Überlegung einigermaßen schwurbelig. Die Beschreibungen von Natur und Landschaft sind durchaus schön, wenn auch häufig sehr nah an der Grenze zum Kitsch verortet:

Schließlich lässt das Gewitter nach, der Himmel hellt sich wieder auf, denn alles ringsum nimmt uns den Atem und lässt jenen sonderbaren Himmel in unserem Inneren aufsteigen, den manche »Seele« nennen.

Ohne dies kritisch zu reflektieren, sind die Schauplätze der Tierexpeditionen des Autors und seiner Freund:innen Russland oder Kanada. Man muss annehmen, dass sie nicht dorthin gesegelt oder gewandert sind – inwiefern diese Ausflüge also umweltfreundlich und einer ökologischeren Lebensweise zuträglich sein sollen, bleibt fraglich.

So kommt er zum Schluss wieder beim Menschen an, und zwar mit der reichlich anthropozentrischen These, dass das Spurenlesen immer schon Teil der conditio humana war. Daraus entwickelt er eine eher naive Ur-Szene der Diskussion von Hominiden in einer Proto-Sprache über Spuren, die sehr subtil politisch aufgeladen ist: »Die Vermutungen jedes Einzelnen werden der Intelligenz der Anderen zur Probe vorgelegt, und dann beschließen wir gemeinsam, in welche Richtung wir gehen werden.« Eine nette Vorstellung, die jedoch die Frage nach Diskursrechten für Marginalisierte oder nicht-Menschen unelegant unter den Teppich bzw. die Moosdecke kehrt. Denn die Frage danach, wie in politischen Entscheidungsprozessen nicht-menschliche Entitäten wie Tiere, Regenwälder oder Ozeane einbezogen werden können, um einen nachhaltigeren Umgang mit der Welt wirtschaftlichen Interessen überzuordnen, ist immer noch ebenso relevant wie unbeantwortet. Überlegungen in diese Richtung stellt Morizot nicht an, dabei wäre es gerade interessant, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten seine Ausflüge in die Wildnis inspirieren. Doch stattdessen bleibt seine Philosophie vorwiegend kontemplativ.

Begegnungen zwischen Mann und Tier

Bei Morizots Begriff von Menschlichkeit geht es schließlich immer auch irgendwie um Maskulinität, etwa wenn er seine Begegnung mit einem Wolf beschreibt: 4 Uhr morgens, ich und ein Wolf auf vierzig Schritt, Mann gegen Mann, jedenfalls Mensch gegen Mensch. Dass diese Formulierung »abgedroschen« ist, fällt Morizot selbst auf und er reflektiert problematische Männlichkeitskonstrukte und ihre Projektion auf Natur und Tiere, jedoch hält ihn das nicht davon ab, weiterer solcher High-Noon-esken Begegnungen zwischen MANN und TIER zu inszenieren, etwa mit einem Grizzly und einem Leopard, während seine Freundin als Begleitung stumm hinterhertrottet.

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Baptiste Morizot
Übers. von Ulrich Boissot
Philosophie der Wildnis oder die Kunst, vom Weg abzukommen

Reclam: Ditzungen 2020
191 Seiten, 18,00€

Donna Haraway kritisiert an Jacques Derridas Tierphilosophie, dass diese das Tier nur als Inspirationspunkt nutzt, ihm jedoch keine eigene intellektuelle agency zugesteht. In dieser Tradition verortet sich im Grunde auch Morizots Ansatz. Dabei ist die Übersetzung häufig erstaunlich unsensibel für konnotativen Kontext. So schlägt die deutsche Ausgabe vor, den Begriff ›in die Natur‹ durch ›in den Busch‹ zu ersetzen, ohne dabei die kolonialrassistischen Implikationen des Ausdrucks zu reflektieren. Es ist unumstritten, dass die Menschheit dringend eine neue Haltung zu dem, was wir ›Natur‹ nennen, entwickeln muss. Doch ob diese tatsächlich dadurch inspiriert werden kann, dass ein weiterer weißer Philosoph in die Wildnis spaziert, um ein paar friedlich umherstreunende Wölfe zu piesacken, ist fraglich.

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