Die Stimmen tanzen im Kopf

Das Deutsche Theater Göttingen zeigt Sarah Kanes 4.48 Psychose in einer Inszenierung, die zwei scheinbar disparate Elemente verbindet: Die Erstarrung, die eine schwere Depression häufig ist, und Tanzeinlagen, die einer ungeheuren Wut auf die Welt Ausdruck verleihen.

Von Simon Gottwald

Fotos: Isabel Winarsch; mit freundlicher Genehmigung des DT Göttingen. Auf dem Titelbild zu sehen: Mirjam Sommer, Benjamin Kempf, Christina Jung, Sebastian Gisi ,Rebecca Klingenberg.

Schmerzende Verwirrung

Wenn niemand einen versteht, während die eigene Psyche sich zu zerreißen droht, bleiben zwei miteinander verknüpfte Reaktionen: Die Wut und die Verzweiflung. Beide behandelt Sarah Kanes letztes Drama, 4.48 Psychose, und es gelingt der Inszenierung von Valentí Rocamora i Torà (Regie und Choreographie) und Sonja Bachmann (Dramaturgie), die am 07. Dezember im DT Göttingen ihre Premiere feierte, das Schwanken eines Menschen zwischen diesen beiden Polen erlebbar zu machen.

Fünf Darsteller*innen schlüpfen in immer wieder andere Rollen, die an diesem Abend nicht viel mehr sind als Stimmen. Sie gehören einer (oder mehreren?) an einer schweren Depression Erkrankten und den Menschen, mit denen sie während ihrer Behandlung in Kontakt kam. Erkrankte, Ärzte und Teile der eigenen Psyche, die auf die Selbstzerstörung hinarbeiten, sie alle werden von den gleichen Schauspieler*innen verkörpert – eine Entscheidung, die das Publikum streckenweise die Verwirrung von jemandem nachfühlen lässt, der*die sich vollkommen fremd in der Welt fühlt.

Mirjam Sommer (Foto: Isabel Winarsch)

Mit einigen Stühlen, einem Klavier und drei Metallgestellen als Requisite, vor den schwarzen Wänden des DT-Kellers als Kulisse (Bühne: Dirk Becker), beschreitet die Inszenierung einen spannenden Weg, indem sie den Dramentext an verschiedenen Stellen mit Tanzeinlagen aufbricht. Was zunächst eigenwillig klingen mag, fügt sich gut in die Aufführung ein, denn der Tanz besteht an diesem Abend oftmals aus einem Stürzen und Toben der Darsteller*innen über die Bühne, einem Ineinanderrennen und Aneinanderzerren, das die Machtlosigkeit der Erkrankten gegenüber ihrem Leiden gelungen in Szene setzt. Untermalt werden diese Szenen von hämmernder Elektromusik. Eine Ausnahme stellt die billige Popmusik dar, die an einer Stelle gespielt wird, an der das Ineinanderstürzen einer Boyband-Tanzperformance Platz macht.

Wohin mit der Wut?

»Depression ist Zorn«, konstatiert eine der zahlreichen Stimmen, die an diesem Abend sprechen dürfen. Aber es ist ein impotenter Zorn, der sich in seiner Ziellosigkeit immer wieder gegen die Erkrankte(n) und ihre Umgebung richtet, nicht gegen die eigentliche Quelle des Leidens: Die Krankheit. In ihrer Verzweiflung lässt die Patientin die Metallgestelle auf den Boden krachen und verursacht so erschreckenden Lärm, präsentiert sie geradezu stolz der behandelnden Ärztin die selbst zugefügten Schnitte auf dem Arm, wird aus einem gequälten Laut ein Schmerzensschrei.

Es gibt auch eine andere, ähnlich erschreckende Seite des Leidens: Die Suche nach Vergessen im Exzess. Während noch all die verabreichten Medikamente und ihre Wirkungen auf die Patientin referiert werden, beginnt ein Rockkonzert, die Auflistung zu übertönen; im Hintergrund stürzen sich zwei Figuren in den Geschlechtsakt. Fragmente berichten von den Versuchen, den Alltag erträglich zu machen und von den Dingen, die ihn prägen: Schlaflosigkeit und das Unverständnis der Umwelt, das auch vor Ärzten und Partnern nicht Halt macht: »Sie haben sehr viele Freunde. Was geben Sie ihnen, dass sie so hilfsbereit sind?« fragt da ein Arzt, der seine Verachtung für die Patienten gestehen muss.

Das Leiden steigert sich immer weiter und bricht sich in verzweifeltem Schreien und Herumirren Bahn, ohne dass von irgendeiner Seite Hilfe käme. Dann kommt die »chemische Lobotomie«: die Medikation, die den Selbsthass zum Schweigen bringt und für vollkommene Stille sorgt. Doch ihre Wirkung ist nur von kurzer Dauer und die Qualen kehren wieder – bis die Patientin selbst ihnen endgültig die Sprache nimmt.

Als das Licht erlischt, ist das Publikum begeistert von dem, was es gerade gesehen hat. Es war ein anstrengender und emotionaler Abend, und es ist Regie und Dramaturgie hoch anzurechnen, dass sie sich nicht in verkitschten Romantisierungen einer Depression zur feingeistigen Melancholie ergehen, sondern die Gnadenlosigkeit einer Krankheit darstellen, aus der es für die Betroffenen häufig nur einen Ausweg zu geben scheint, weil die Welt leer und unverständlich geworden ist.

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