Gut gemeint

Der »Crossover«-Debütabend beim Göttinger Literaturherbst bringt verschiedene Genres und Medien zusammen. So ganz geht das Konzept nicht auf, eine nette Gesprächsatmosphäre entsteht zwischen den Autorinnen auf der Bühne trotzdem.

Von Hanna Sellheim

Bild: Dietrich Kühne

Kim de l‘Horizon fehlt. Der:die Buchpreisgewinner:in kann am 28. Oktober wegen einer Krankheit nicht wie geplant zum »Crossover«-Debütabend im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes kommen – macht erstmal nicht so viel, denn er:sie war ja schon da. Also findet die Veranstaltung im Alten Rathaus nur mit Lea Draeger und Sirka Elspaß sowie Christina Piljavec als Moderatorin statt. Es wird durchwachsen.

Piljavec beginnt die Lesung mit einem Poetry-Slam-haften Disclaimer, der den Hass und die Hetze gegen de l‘Horizon seit Verleihung des Buchpreises verurteilt. Es gelte, »wachsam und solidarisch« zu bleiben, schließt Piljavec, was das Publikum mit zustimmendem Applaus beantwortet.

Zunächst lesen die beiden Autorinnen aus ihren Debüts. Elspaß‘ Gedichte aus ich föhne mir meine wimpern haben einen leisen Humor, erzählen von den Schwierigkeiten, die Liebe und Nähe mit sich bringen, vom Körper. Draegers Roman Wenn ich euch verraten könnte schildert eine Familiengeschichte – die Frauencharaktere stünden dabei im Mittelpunkt, betont sie. Irritierenderweise fokussiert sich die Lesepassage dann jedoch auf männliche Figuren. Der Roman-Ausschnitt beschreibt mit düsterem Humor die Dysfunktionalitäten einer mehr oder weniger durchschnittlichen Familie. Eine ausführliche, detailreiche Suizid-Szene wird ohne Triggerwarnung vorgelesen – dass das keine gute Idee ist, ist wohl leider immer noch nicht selbstverständlich.

Kim de l’Horizon als Video-Einspieler

Um Kim de l’Horizons Abwesenheit auszugleichen, wird ein Video-Ausschnitt aus der Literaturherbst-Lesung zum Deutschen Buchpreis eingespielt. Ein ganz netter Einfall, der de l’Horizons Teilnahme am Gespräch allerdings nicht wirklich ersetzen kann. Zu allen Lesepassagen erscheinen die digitalen Zeichnungen von Kunst-Studentin Maria Bisalieva live auf der Leinwand, wobei die Technik ein wenig hakt. Eine wirkliche zusätzliche Dimension schaffen die Zeichnungen nicht, zumal sie im Gespräch auf der Bühne nie aufgegriffen werden. 

Piljavec fragt Draeger und Elspaß, ob die Sprache beim Schreiben ihre Freundin oder ihre Feindin sei. Beide antworten ambivalent: Für Elspaß sei sie ein Werkzeug, mit dem sie manchmal hadere, das ihr helfe, innere Prozesse und Gefühle auszudrücken, wobei es aber natürlich manchmal auch Reibereien gebe. Draeger sagt, für sie sei die Sprache beides – es mache Spaß, Zeit mit ihr zu verbringen, oft zweifle sie aber auch Wörter an, ob sie wirklich stimmten, fühle sich, als würde die Sprache sich über sie stülpen, sie kontrollieren. 

Danach kommt das Gespräch auf die anderssprachigen Einflüsse in den Texten. Wie diese Gefühle von Fremdsein versus Zugehörigkeit ausdrückten, möchte Piljavec wissen. Auf Englisch sei es möglich, Dinge auszudrücken, die sich auf Deutsch »ganz anders schwer« anfühlen würden, sagt Elspaß und nennt als Beispiel die Zeile »how to curse your rapist«.  Draeger spricht über den Text und das Schreiben als Leere, der sie sich anzunähern versuche. In ihrem Roman gehe es um das Schweigen über die Vergangenheit – die Sprache sei eine, wenn auch gefährliche, Waffe, um dieses zu brechen. 

Traumata als Phantomschmerz?

Piljavec spricht die transgenerationale Komponente, die verschiedenen Perspektiven unterschiedlicher Generationen als Gemeinsamkeiten der Texte an und fragt, wie die Autorinnen sich diesen angenähert hätten. Elspaß erklärt, es sei für sie schwierig, für andere zu sprechen. Sie sei beim Schreiben natürlich von sich und ihren Erfahrungen ausgegangen, das lyrische Ich helfe ihr dann, diese zu transportieren. Für sie sei es das erzählerische Ich, fügt Draeger hinzu, mit dem sie Teile von sich und ihrer eigenen Familiengeschichte literarisch verarbeite. 

Die Traumata – ein Phantomschmerz?, fragt Piljavec. Das sei ein großes Thema in ihrem Familienroman, erklärt Draeger, es gehe darum, wie die immer gleichen Gewalterfahrungen durchbrochen werden könnten. Auf Nachfrage von Piljavec bejaht Draeger, dass sich dies auch in der zyklischen Struktur des Textes zeige, der immer wieder Kreise bilde. Es entsteht eine Diskussion um das Wort: Warum Phantom, ist es nicht einfach nur Schmerz? Ein Beispiel dafür, wie ungenau Sprache sein könne, findet Elspaß.

Göttinger Literaturherbst goes cross-genre-bending-multimedial

Schließlich geht es um den Einfluss der Religion in den Werken beider Autorinnen. Draeger habe zeigen wollen, wie viel von den dualistischen Denkweisen von beispielsweise Gut und Böse des Katholizismus überdauere. Bei Elspaß sei die Motivik eher »nonchalant reingeflossen«, sagt die Lyrikerin. Piljavec zählt einige der gemeinsamen Themen der Texte auf, die ihr aufgefallen seien – warum sie sich wohl so ähnelten, fragt sie. Elspaß weist lachend darauf hin, dass dies ja nun auch naheliegende große Bilder seien und man sich außerdem auch bei einem Crossover-Abend befinde, bei dem die Textauswahl sicherlich nicht zufällig geschehen sei. 

Zum Schluss antworten die beiden Debütautorinnen auf Piljavec‘ Frage, ob die Themen für sie nun abgeschlossen seien oder ob es da noch mehr Nuancen, mehr Spielraum gebe. Draeger findet, da gebe es noch viel, was sie gerne weiterentwickeln würde, Elspaß hingegen sagt: »Die Gedichte sind gedruckt, jetzt kommt was Neues, aber vorher brauch ich erstmal eine Pause.« So endet »Crossover«: Die Gesprächsdynamik der drei Frauen auf der Bühne wirkt authentisch und freundlich, gerät aber bei einigen Fragen durch langes Definitions-Gerangel und abschweifende Antworten ins Stocken. Etwas mehr Diskussion und etwas weniger Fragenkatalog hätten die Unterhaltung auflockern können. Ob das Genre-verbindende, multimediale Konzept einfallsreich oder überkandidelt ist, ist wohl Geschmackssache – zumindest bei der Umsetzung bleibt fürs nächste Mal noch Luft nach oben. Trotzdem: ein gut gemeinter Abend.

Göttinger Literaturherbst 2022

Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.

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