»Literatur, der verlässlichste aller Fluchtwege«

Nah genug weit weg nennt Antje Rávik Strube ihre Lichtenberg-Poetikvorlesung und fasst damit zusammen, was für ihr Leben und ihr Schreiben am wichtigsten ist: neue Orte entdecken und sie in ihren Büchern fesselnd und nur der persönlichen Wirklichkeit getreu wiederzugeben.

Von Lena Heykes

Bild: Hanna Sellheim

Die erste der beiden diesjährigen Lichtenberg-Poetikvorlesungen hat am 8. Februar im Literaturhaus Göttingen stattgefunden. Die Rednerin des Abends war die Autorin Antje Rávik-Strubel mit ihrem Vortrag Nah genug weit weg.

Der Abend findet seinen Anfang mit Sandra Kegel, der Leiterin des FAZ-Feuilletons, die einleitend erste Einblicke in das Leben und Schreiben von Antje Rávik Strubel gibt. Die Autorin sei eine »skrupellose Worthändlerin«, meint Kegel. Rávik Strubel habe schon früh mit dem Schreiben angefangen und dabei immer wieder das Überschreiten von Grenzen als Thema integriert. So auch mit ihrem letzten Werk Blaue Frau, dass aktuelle und politische Dimensionen erreiche, in Bezug auf das Verhältnis zwischen West- und Osteuropa. Das Interesse ist geweckt und so beginnt die Poetikvorlesung von Rávik Strubel.

Doch um Blaue Frau, ein Buch, das zurecht den deutschen Buchpreis 2021 gewann und somit Grund genug für die Einladung der Autorin Rávik Strubel als Gastdozentin ist, geht es heute nicht. Zumindest nicht direkt, dennoch webt sich Blaue Frau immer wieder in den Vortrag ein. Vielmehr stehen heute literarische Orte im Vordergrund.

Rávik Strubel erzählt zuerst ihre persönliche Geschichte bis zur Entstehung von Blaue Frau. Sie ist in der DDR aufgewachsen, in Ludwigsfelde. Behauptet, sie habe keine Zeit gehabt, jung zu sein, und habe sich für arrogant gehalten, mit dem stetigen Drang, sich davon zu machen. Eine Möglichkeit, die sich mit dem Mauerfall 1989 schließlich bot. Sie zog Anfang der 90er Jahre nach Berlin und musste das »Westdeutsche« erst einmal verstehen. Offen spricht sie darüber, dass sie sich auf einem Autorinnentreffen in eine Dichterin verliebte und ihre Heimat Ludwigsfelde schließlich endgültig verließ. Ein erster Schritt für sie dahin, ein eigenes Leben zu beginnen und dadurch auch anders zu sehen.

Ortlose Orte

Von Berlin trieb es Rávik Strubel aus der noch jungen Bundesrepublik nach New York und Kalifornien. Sie schrieb ihren ersten Roman Offene Blende und entdeckte die Bücher von Joan Didion, die Rávik Strubels eigene Produktionen fortan beeinflussten. Auch im Vortrag nutzt sie Zitate Didions, so sehr fühlt sie sich mit dieser Autorin sprachlich verbunden. Amerika reichte ihr jedoch nicht, es zog sie weiter an neue Orte. Die nächsten Ziele waren im Norden – Schweden und Finnland, wegen des besonderen Lichtes. Eine Tatsache, die wohl jede:r bestätigen kann, der:die selbst schon einmal dort war. Zugleich gibt sie die ersten Hinweise darauf, wie wichtig Landschaften für ihre Werke sind.

Diese Orte beeinflussen das Schreiben Rávik Strubels. Sie selbst bezeichnet diese als »ortlose Orte« und beschreibt damit das Gefühl, an einem unbekannten Platz zu sein, sich nicht auszukennen, nichts wiederzuerkennen und auch nicht gekannt zu werden. Sie beschreibt  eine gewisse Art von Flucht – vermutlich vor dem Bekannten – aber auch eine Flucht in die Literatur. Dies geschehe selten haargenau. Eher sei es so, dass der Ort erdacht werde. Details würden eingebracht, die in Wirklichkeit gar nicht da sind. So könne es passieren, dass der Platz, der beschrieben wird, nicht wiederzuerkennen sei als der, der tatsächlich gemeint ist.

Orte von Männern, Orte von Frauen

Orte als Schauplätze gestalten die Literatur. Im literarischen Gedächtnis sind es laut Rávik Strubel vor allem die Plätze männlicher Autoren, die sich eingeprägt haben, wie beispielsweise das Lübeck von Thomas Mann in Buddenbrooks. Sie zeigt auf, dass die Schauplätze von Frauen, wie das London von Virginia Woolf in Mrs. Dalloway, weniger Beachtung finden. Dies führt Rávik Strubel darauf zurück, dass in der Vergangenheit vor allem Zimmer und Wohnungen lange die Refugien von Frauen waren. Ihre Werke spielten in Gesellschaftszimmern oder Salons und es dauerte, bis weibliche Autorinnen daraus ausbrachen. Ein feministischer Anklang, über den vielleicht noch nicht jede:r nachgedacht hat, doch leuchtet dieser ein. Eingeschränkte Bewegungsräume für Frauen in der Gesellschaft spiegeln sich natürlich in der Literatur wider.

Als Frau ist mein Land die ganze Welt. Und wer kein Land hat, hinterlässt keine Spuren.

So sieht es Rávik Strubel. Für sie ist die gesamte Welt beweglich und ungebunden. Ihr Zuhause ist überall und das schlägt sich auch in ihren Büchern nieder. Das Helsinki in Blaue Frau ist vielmehr ein erdachter Ort von Rávik Strubel. Damit, wie die Hauptstadt Finnlands tatsächlich ausschaut, hat ihre Beschreibung nur wenig zu tun.

Zum Schreiben

Erste Einblicke darin, wie Rávik Strubel schreibt und wie wichtig die Inspiration von Orten und Landschaften dafür ist, wird im Vortrag deutlich. So auch der Platz, an dem sie schreibt. Der Schreibtisch in ihrer Wohnung, der den Spitznamen »das Schiff« trägt, habe nur den Anschein eines stabilen Orts, aber tatsächlich sei Rávik Strubel beim Schreiben in Bewegung, in einem Schreibfluss. Es gebe ihr ein Gefühl von Flucht in die Literatur und gleichzeitig wisse sie nicht genau, wohin es gehen wird. Den Zustand während des Verfassens beschreibt sie als »betwixed and between«, aus dem vorigen Zustand gelöst und noch nicht im neuen angekommen. Die Worte sagen ihr, was sie tut.

Der rote Faden

»Die blaue Frau spricht zu mir«, sagt Rávik Strubel zu Beginn. Ein Zwiegespräch, das sich durch den gesamten Vortrag zieht. Immer wieder taucht die blaue Frau auf und verbildlicht den Vortrag. Ebenso wie die blaue Frau weben sich die Übergänge zwischen den verschiedenen Orte perfekt ein und lassen ein Gesamtbild entstehen. Sie geben zu verstehen, wie die Autorin selbst ist, rastlos und stets auf Entdeckungsreise an fremden Orten. Eine gewisse Art von Flucht. Vor was genau, bleibt dabei unklar. Das Unbekannte gibt ihr, neben den Büchern von Joan Didion und Virginia Woolf, die Inspirationen für ihre eigenen Werke und verdeutlicht, warum sie die Literatur als sichersten Fluchtweg ansieht.

Die Vorlesung zeigt auf, wie wichtig Schauplätze in der Literatur sind, dass sie erdacht und nicht eins zu eins wiedergegeben werden. Sie beeinflussen die Figuren, wie sie leben und wie sie handeln. Der Vortrag ist spannend und fesselnd. Es ist kaum möglich, nicht zuzuhören, so schön sind die Worte, Sätze und Absätze miteinander verknüpft. Sie geben Einblicke in Rávik Strubels Persönlichkeit. Ihre Neugier, neue Orte zu entdecken und die Momente, in denen sie schreibt. Durchgehend schwingen eine unterschwellige Unruhe und Rastlosigkeit mit, was wohl auf die stets wechselnden Schauplätze zurückzuführen ist und sich auch in ihren Büchern immer wieder niederschlägt. Und obwohl die Unruhe selbst ein wenig in eine:n übergeht, kann man den zweiten Vortrag kaum abwarten, zu verlockend ist die Möglichkeit, noch einmal mit Antje Rávik Strubel in die Literatur zu flüchten.

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