Triggerwarnung: Rassistisch motivierte Gewalt, Nationalsozialistische Verfolgung von sog. »Asozialen«
Der Göttinger Geschichtsstudent Daniel Haberlah hat ein Buch über seine Urgroßtante geschrieben. Im Litlog-Interview erzählt er von einer lange nicht anerkannten Opfergruppe des Nationalsozialismus und schildert die Wiederentdeckung einer lokalen Fallgeschichte während des Lockdowns.
Das Interview führte Linus Lanfermann-Baumann.
Bilder: Privat
Im Juni 2021 veröffentlichte Daniel Haberlah sein Buch Als »Asoziale« nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner. Eine Spurensuche. Mit wissenschaftlichem Anspruch erzählt er darin die Geschichte seiner Urgroßtante, die in den 1920er und 1930er Jahren im proletarischen Milieu der Stadt Braunschweig aufwuchs und während der nationalsozialistischen Herrschaft als sogenannte »Asoziale« verfolgt wurde. Nach zwischenzeitlicher Haft im Arbeitserziehungslager Watenstedt-Hallendorf starb sie 1945 24-jährig im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.
Daniel Haberlah (*1995) absolvierte zwischen 2015 und 2018 in Braunschweig und im französischen Besançon ein Bachelorstudium in Geschichte und Philosophie. In Göttingen studiert er gegenwärtig Geschichte im Master.
Daniel, Du hast Mitte 2021 als Student im Alter von 25 Jahren ein eigenes Buch veröffentlicht. Wie geht es Dir damit aktuell, ein halbes Jahr später?
Gut! Ich bin sonst eher kritisch mit Texten von mir, aber immer noch sehr zufrieden mit dem Buch. Vielleicht denke ich in zehn Jahren: Mit dem Wissen, das ich dann habe, hätte ich es besser machen können. Aber mit dem Wissen von heute ist es das Beste, das mir möglich war. Ich bin außerdem glücklich über die Resonanz, auf die ich bisher gestoßen bin.
Wie fiel die Resonanz denn aus?
Meine Eltern und Großeltern und viele von deren Bekannten waren ganz positiv gestimmt. Viele waren überrascht, weil ihnen die Thematik in dem Maße gar nicht bekannt war. Wir reden ja hier von Leuten, die sich nicht hauptsächlich mit Geschichte beschäftigen. Ich habe auch positive Rückmeldungen von Leuten erhalten, die in keinem Bekanntschaftsverhältnis zu mir stehen, die es also überhaupt nicht nötig gehabt hätten. Ich finde es sehr schön, dass diese ganze Arbeit so gewürdigt wurde, denn natürlich ist der Aufwand dahinter groß.
Dein Buch handelt von Deiner Urgroßtante Irmgard Plättner, die 1945 als sogenannte »Asoziale« mit nur 24 Jahren im KZ Ravensbrück gestorben ist. Wie kam es dazu, dass Du Dich mit ihrem Leben beschäftigt hast?
Das fing damit an, dass ich mit meiner Familie im Haus meiner Urgroßmutter aufgewachsen bin. Sie ist erst 2013 gestorben, deswegen sind meine Erinnerungen an sie noch präsent. Sie hat mir immer viel erzählt. Irgendwann ging es auch um ihre Schwägerin, also meine Urgroßtante. Sie schilderte mir, dass nach dem Krieg eine Frau, die mit Irmgard Plättner im KZ inhaftiert war, zur Familie gekommen ist und erzählt hat, dass sie dort gestorben, auf einen Wagen geworfen und dann verbrannt worden sei.
Wie bist Du mit dieser Geschichte umgegangen?
Ich habe sie erst einmal so hingenommen. Als Begründung für die Verfolgung nannte meine Urgroßmutter, dass Irmgard Plättner nicht arbeiten wollte. Ich habe das zwar geglaubt, mich aber noch lange gefragt, warum eigentlich eine deutsche Frau, die dazu noch mit einem Wehrmachtssoldaten verheiratet war, auf diese Art verfolgt wurde. Sie wirkt auf den ersten Blick ja nicht wie ein typisches Opfer der Nazis.
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Auch die Universität Göttingen spielt ja bei der Entstehung Deines Buchs eine Rolle?
Ja, ich hatte inzwischen Geschichte studiert und im Wintersemester 2019/20 in Göttingen ein Seminar zur Geschichte des Strafens besucht. Im Lockdown habe ich mir viele alte Fotos von meinen Urgroßeltern und von Braunschweig angeschaut, darunter auch ein paar Fotos von Irmgard Plättner. Und dann habe ich eben gedacht: Vielleicht finde ich ja genug Material zu ihr, zumindest für meine Seminararbeit.
Und dann ist es doch mehr geworden.
Ja, meine Dozentin war da ganz offen. Bei der Recherche war ich vielleicht auch mit mehr Herzblut dabei, als wenn ich das Thema nur für die Credits bearbeitet hätte. Ich habe dann immer weiter recherchiert, da kam Vieles zusammen. So entstand etwas, das weit über das Seminar hinausgriff: ein wissenschaftliches Buch, das sich aber durchaus an Menschen richtet, die nicht unmittelbar etwas mit der wissenschaftlichen Forschung zu tun haben. Man sollte es auch verstehen können, wenn man nicht aus der Wissenschaft kommt, das war mein Ziel.
Daniel Haberlah
Als »Asoziale« nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner. Eine Spurensuche
Einert & Krink: Schellerten 2021
196 Seiten, 12,00€
Jemand, der nicht aus der Wissenschaft kommt, stolpert vielleicht über den Begriff »asozial«, der ja bis heute verwendet wird. Schon im Titel deines Buchs heißt es: Als »Asoziale« nach Ravensbrück. Was bedeutete dieses Wort zur NS-Zeit?
Erstmal ist der Begriff natürlich scheußlich, auch im Buchtitel. Aber das Thema ist nun mal als Verfolgung sogenannter »Asozialer« bekannt. Richtiger würde man wahrscheinlich von sozialer Verfolgung oder sozialrassischer Verfolgung sprechen. Denn »Asozialität« wurde durchaus auch als biologische Veranlagung der Menschen gesehen. Nur »wertvolle« oder »erbgesunde« Familien sollten sich fortpflanzen, darum wurden vermeintlich »Asoziale« häufig auch sterilisiert.
Und wer fiel konkret in diese Kategorie?
Der Begriff war variabel, den haben die Nazis bewusst offengelassen. Er wurde immer wieder neu auf unliebsame Verhaltensweisen angepasst. Dazu gehörten zum Beispiel Bettelei, Alkoholismus, Prostitution, Obdachlosigkeit und Menschen, die Straftaten begingen oder Fürsorge empfingen. Und dazu Arbeitslose beziehungsweise später auch Menschen, von denen die Nazis meinten, dass sie nicht »genug« arbeiteten. Darunter war auch Irmgard Plättner. Die Idee, solche Menschen gesondert zu behandeln, war im Nationalsozialismus auch nicht neu, wurde aber vor allem während des Krieges extrem auf die Spitze getrieben.
Besonders wütend haben mich beim Lesen die vergeblichen Bemühungen um Entschädigung nach Kriegsende gemacht, ob nun von Irmgard Plättners Nachkommen oder auch von ihren überlebenden Mit-Insassinnen. Wie schätzt Du die Lage von als »asozial« Verfolgten in der Nachkriegsgesellschaft ein?
Man muss sich klar machen, dass die offizielle Anerkennung als Opfer des NS erst im vorletzten Jahr, also Anfang 2020, erfolgte.
2020?
Ja, das ist bei Pandemiebeginn vielleicht etwas untergegangen. Für die Nachkriegszeit kann man schon von »Kontinuitäten der Ausgrenzung« sprechen – eine Formulierung der Gedenkstättenreferentin Christa Schikorra. Denn es war gesamtgesellschaftlicher Konsens, dass Menschen irgendwo gerechterweise als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« verfolgt wurden. Selbst viele ehemalige Mithäftlinge sahen das so. Heute ist das Thema zwar mehr Menschen bewusst, aber nach wie vor unterrepräsentiert. Grundsätzlich geht es nicht darum zu sagen: »Wir haben genug über die Juden geredet, jetzt sprecht mal bitte alle über die ›Asozialen‹.« Sondern es geht darum, dass man es irgendwie schafft, in der Erinnerungspolitik und in der Forschung einen Platz für diese Menschen zu finden, der ihnen lange nicht zugestanden wurde.
Dein Buch ist auch ein Versuch, diesen Platz zu finden?
Ich möchte auf keinen Fall die »Opferkonkurrenz« fortschreiben oder verschiedene NS-Opfergruppen gegeneinander ausspielen. Es geht um das Nebeneinander. Aber für ein umfassendes Verständnis des Nationalsozialismus ist es nun mal notwendig, sich auch mit der Verfolgung angeblich »Asozialer« auseinanderzusetzen. Ein Grund für die lange Vernachlässigung ist vielleicht auch die Ambivalenz dieser Menschen, die zum Teil durch Verhaltensweisen auffielen, die auch heute noch nicht gesellschaftlich akzeptiert sind. Das waren nicht immer »gute« Menschen – was immer »gut« da im Detail heißen mag –, die verfolgt wurden. Aber das heißt ja deswegen nicht, dass sie zurecht im KZ waren. Niemand war zurecht im KZ. So steht es auch in dem Antrag, dem 2020 eine Mehrheit im Bundestag zustimmte.
Mit Deiner Urgroßtante hast Du Dir einen speziellen Fall dieser Verfolgung angeschaut. Dein Buch ist im Prinzip chronologisch aufgebaut, doch mit dem Prolog und dem Epilog umrahmen sehr persönlich geschriebene Textteile Irmgard Plättners Lebensgeschichte. Warum hast Du Dich für diese Struktur entschieden?
Einerseits handelt es sich um ein Thema, das familiengeschichtlich mit mir selbst zu tun hat, andererseits ist es aber zeitlich schon so weit weg, dass es mich nicht mehr so direkt betrifft. Darum sollte dieses Persönliche zwar ein Teil des Textes sein, aber sich nicht die ganze Zeit darin widerspiegeln. Es sollte ja in dem Buch nicht um mich gehen, sondern um Irmgard Plättner. Den Prolog und den Epilog verstehe ich als Klammer, die diese Geschichte mit unserer heutigen Zeit verbindet. Im Haupttext geht es dann um die »harten Fakten« auf Basis der Quellen: zunächst um ihre Kindheit und Jugend, dann um die Verfolgung und schließlich um das Nachleben nach 1945.
Auf der letzten Seite Deines Buchs schreibst Du: »Eigentlich wissen wir nichts über Irmgard Plättner.« Hat Dich die dünne Quellenlage zwischendurch frustriert?
Als ich für den Entschädigungsantrag, den mein Urgroßonkel 1949 gestellt hatte, das erste Mal ins Archiv gefahren bin, da habe ich gedacht: Ich bekomme so drei, vier Seiten, vielleicht eine Bestätigung dafür, dass sie im KZ gestorben ist. Aber dann gab es ja doch erheblich mehr. Die Quellenlage ist tatsächlich nicht so schlecht, zumindest für die Zeit im KZ. Wenn ich schreibe, dass wir eigentlich nichts über sie wissen, dann meine ich sie als Person: wie und worüber sie sich Gedanken gemacht hat, was ihre Hobbys waren, was sie als Mensch ausgemacht und bewegt hat. Alles, was wir wissen, dreht sich um ihre Verfolgung, aus ihrer Jugend gibt es nur Bruchstücke. Sie hat nie selbst Zeugnis von sich abgelegt. Es bleibt dadurch leider doch eine unpersönliche Geschichte.
Wie findet man denn einen Verlag, wenn man so ein großes Projekt wie Du umgesetzt hat? Man ist ja Student und hat noch keinen Namen. Schreibt man ein paar Mails und schaut, was zurückkommt?
Das könnte man bestimmt so machen (lacht). Aber bei mir ist es eher ein glücklicher Zufall gewesen. Während meines Bachelorstudiums in Braunschweig war ich Hilfskraft am Institut für Geschichtswissenschaft. Einer der Dozenten dort hatte vor einiger Zeit einen Verlag gegründet. Er fand das Thema sehr interessant und hat mich gefragt, ob ich daraus nicht mehr machen möchte als nur eine Seminararbeit. Also habe ich mir gesagt: Ich probiere das einfach mal. Ich habe ihm nach weiteren Recherchen einen Textauszug geschickt. Und dann haben wir weiter diskutiert, jetzt auch inhaltlich, und ich habe weitergeschrieben – dann durchaus auch mit der Absicht einer späteren Veröffentlichung.
Das hört sich sehr aufwendig an. Wie findet man neben dem Studium die Zeit dazu?
Das hätte wahrscheinlich erheblich länger gedauert, wenn ich das neben dem normalen Studienalltag gemacht hätte. Aber ich hatte im letzten Wintersemester eigentlich keine große Lust mehr auf Online-Lehre und wollte lieber zwei Praktika machen. Als das eine kurzfristig abgesagt wurde, hatte ich dadurch vier Monate Zeit, in denen ich wenig andere Dinge um die Ohren hatte, als mich um das Buch zu kümmern.
Durchaus mit weiteren Auswirkungen: Dank Deines Buchs wurde im Juni 2021 sogar ein Stolperstein für Irmgard Plättner verlegt.
Es gab in Braunschweig noch für niemanden, der als »Asozialer« verfolgt wurde, einen Stolperstein. Ihrer ist also der erste. Sie hat ja auch keinen Grabstein, das darf man nicht vergessen. An dem Ort, wo jetzt der Stolperstein ist, hat sie gewohnt, dort hat meine Urgroßmutter mit ihrer Familie gelebt. Das ist also ein Ort, der auch eine gewisse familiäre Bedeutung hat. Dort ist jetzt eine Erinnerung an sie. Mein Urgroßonkel hätte sich bestimmt gefreut, wenn er gewusst hätte, dass fast fünfzig Jahre nach seinem eigenen Tod seine erste Frau nicht vergessen wurde. Er hatte sie ja auch nicht vergessen, sonst hätte er die ganzen Fotos nicht aufbewahrt.
Ist das Thema mit dem Erscheinen des Buchs nun für dich abgeschlossen?
Nein, ich schreibe auch meine Masterarbeit über dieses Thema. Es geht dabei um soziale Verfolgung im Nationalsozialismus in Braunschweig, in einem über den Einzelfall hinausgehenden Rahmen. Da benutze ich viele dieser Entschädigungsanträge als Quellen. Ich bleibe dem Thema also erst einmal treu.