Warum hast du so gelbe Augen?

Mit Wolf wendet Saša Stanišić sich zwar erneut einem anderem, nämlich eher jugendlichen Publikum zu, bleibt sich aber in jeglicher Hinsicht treu: Mit mal komischem, mal ernstem Ton wird hier nicht nur ein Mobbingfall verhandelt – auch die (Un-)Möglichkeiten des Geschichtenerzählens angesichts realer Probleme werden reflektiert.

Von Frederik Eicks

Bild: Via Pixabay, CC0

Saša Stanišić, der nach seinem unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichneten Herkunft1Saša Stanišić: Herkunft. München 2019. sicherlich eine kleine, wohlverdiente Schreibpause hätte einlegen können, hat gerade das nicht getan. Dem gefürchteten Nachfolger eines so großen Wurfs, der unmöglich an die Erwartungen heranreichen kann, ist er gewissermaßen ausgewichen, indem er sich mit den Kinderbüchern Hey, hey, hey Taxi!2Saša Stanišić: Hey, hey, hey Taxi! Hamburg 2021. und Panda-Pand3Saša Stanišić: Panda-Pand. Hamburg 2021. einfach einem neuen Publikum zuwandte. Das Experiment glückte und die Leute waren begeistert, was sicherlich auch an dem beträchtlichen Prestige lag, das Stanišić in der Zwischenzeit angehäuft hatte (der Kapitalismus lässt grüßen). Dass seine Erfolge letztendlich aber in seinem schriftstellerischen Können begründet sind, beweist der Autor mit seiner jüngsten Veröffentlichung: Wolf vollzieht nochmals eine Abkehr vom Publikum und ist eher unter die Jugend- als unter die Kinderbücher zu zählen – auch wenn der Verlag das Buch als »Kinderroman« bewirbt. Grund dafür ist weniger das durchaus ernste Thema des Mobbings (denn natürlich können sich Kinder auch mit solchen Dingen auseinandersetzen), sondern die Form, der Grad der Vermittlung und die Selbstreflexivität des Texts.

Der kurze Roman folgt dem Protagonisten Kemi ins Ferienlager im Wald, in das er von seiner alleinerziehenden Mutter geschickt wird, die anscheinend mal eine Woche Ruhe braucht. Schon vor der Abfahrt deutet sich der zentrale Konflikt an, als Marko und die Dreschke-Zwillinge irgendwas auf die Busreifen krakeln. Kemi mutmaßt: »Was über Mädchen vermutlich. Oder über Jörg«,4Saša Stanišić: Wolf. Hamburg 2023, S. 17. Im Folgenden im Text zitiert mit dem Kürzel W. der ebenfalls mitfährt und sich die Schlafhütte mit Kemi teilen wird. Die eingefleischten Stanišić-Ultras sind natürlich bei ›Ferienlager im Wald‹ schon hellhörig geworden: Tatsächlich handelt es sich bei Wolf um eine Bearbeitung von Stanišićs Erzählung Im Ferienlager im Wald5Saša Stanišić: Fallensteller. Taschenbuch-Sonderausgabe Mai 2018. München 2018, S. 213-226. Im Folgenden im Text zitiert mit dem Kürzel F. – mit dieser Entdeckung brüsten kann sich allerdings niemand, wird die Beziehung der beiden Texte im Einband von Wolf schon unmissverständlich kommuniziert. Trotzdem: Wer könnte der Verlockung widerstehen, die beiden Texte vergleichend nebeneinander zu legen?

Von allem etwas mehr

So lässt sich ohne großes Nachforschen feststellen, dass es erstaunlich viele wörtlich übernommene Formulierungen gibt, die sich durch beinah die gesamte Länge von Wolf ziehen. Das betrifft vor allem die für Stanišićs Schreiben so charakteristischen Scherzereien: Kemi, der unter keinen Umständen eine Woche im Wald verbringen will, meint, es »gibt doch kein traurigeres Feuer als eines, in dem Folienkartoffeln braten« (W 12, vgl. F 213) und findet »Bäume nur als Schrank super« (W 13, vgl. F 213). Die Komik von Wolf beschränkt sich aber keineswegs auf recycelte Witze, auch neue Ideen finden sich zuhauf, beispielsweise gleich mit den ersten Sätzen des Romans: »Mutter und ich machen Salat. Ich liebe es, mit Mutter Salat zu machen, wir reden dann nur über den Salat. Wir sind komplett für den Salat da« (W 11). Gleiches gilt für die Figuren, die – ebenfalls kennzeichnend für Stanišić – eher gekonnt skizziert als gründlich porträtiert werden. Über den Koch heißt es in Ferienlager, er hätte »ein Tattoo von einem Raumschiff oder einem Traktor auf der Stirn« (F 217), aber in Wolf beschreibt der Ich-Erzähler etwas detaillierter (und witziger): »Seine Schläfen sind tätowiert. Auf jeder Schläfe steht: Schläfe« (ebd.).

Am interessantesten wird das Parallellesen von Roman und Erzählung dann, wenn es um die Frage danach geht, auf welche Weisen sich die beiden Texte mit ihren unterschiedlichen Zielgruppen dem ihnen gemeinsamen Thema widmen. Die kurze Antwort: Wolf ist von allem etwas mehr: mehr Text, mehr Figuren, mehr Bilder (nämlich mehr als null). Bei Ferienlager hingegen handelt es sich um einen äußerst kompakten Text, der die Eindrücke des Ferienlagers unvermittelt gegeneinanderstellt und konsequenterweise auch genau dann aufhört, wenn es konkret wird: Als der (hier namenlose) Protagonist von seinen Albträumen erzählt, in denen er einem gelbäugigen Wolf begegnet, steht (der auch hier so genannte) Jörg auf und schreit: »Nein! Der Wolf sitzt nur da und guckt – dich – an! Mit diesen gelben Augen guckt er dich an!« (F 225)

Wolfsbegegnungen

Ferienlager hört auf mit der Stille, die nach Jörgs Ausbruch Einzug hält. Wolf jedoch, in dem diese Szene beinahe identisch enthalten ist, schreibt nicht nur über dieses Ende hinaus, sondern auch in die vielen Lücken hinein, die zwischen den Bruchstücken von Ferienlager klaffen. Das geschieht einerseits mittels Passagen, die wie die Stelle, in der Marko Jörg das Frühstück (»das Gelb«, W 71, F 220) wegfrisst, aus Ferienlager übernommen und mit Details angereichert werden. Andererseits gibt es auch neue Szenen wie zum Beispiel den Kletterausflug (vgl. W 89ff.) oder den Vortrag von Försterin Beate (vgl. W 172ff.). In dieser Hinsicht handelt es sich bei Wolf um einen Text, der an der Oberfläche mehr vermittelt zwischen seinem Anliegen und den Lesenden, die einen leichteren Zugang zur fiktiven Welt und den darin existierenden Figuren bekommen.

Aber aus diesem Umstand zu folgern, das für Jugendliche geschriebene Wolf wäre insgesamt vermittelter, leichter zu begreifen oder weniger komplex als das für Erwachsene geschriebene Ferienlager, wäre ein Fehlschluss. Vielleicht ist Wolf sogar noch irritierender. Es nimmt nämlich das zentrale, aber höchst uneindeutige Motiv der Wolfsträume auf, staffiert es aus und erhebt es zu seinem Titel. Auch die mal feinsinnigen, mal groben, mal realistischen, mal träumerischen Illustrationen Regina Kehns machen das wölfische Gelb, das neben den Nichtfarben Schwarz und Weiß als einziger Farbton Verwendung findet, zu ihrem Grundprinzip – abzulesen schon am Buchcover. Sechsmal erscheint der Wolf Kemi und beim letzten Mal, das heißt nach Jörgs Wutausbruch, bei dem dieser offenbart, dass auch er den Wolf kennt, verliert der Wolf alles Bedrohliche: »Der Wolf kratzt an der Tür. Jörg steht auf und lässt ihn herein. Der Wolf legt sich neben das Bett und wacht über uns« (W 170).  Aus dem Wolf, der anfangs solche Angst auslöst, dass Kemi sich »keinen Millimeter bewegen kann« (W 69) wird schließlich »[u]nser Wolf« (W 164). Auf was für einer Ebene aber die Wolfsbegegnungen stattfinden und wie sie eigentlich zu verstehen sind, das behält der Text ein. Gerade im Kontrast zur sonstigen Zugänglichkeit wirkt das Wolfsmotiv noch dichter als in Ferienlager. Unter der lockeren humus-artigen Oberfläche, mit der Wolf die Spalten überzieht, ist das Erdreich mit knallgelben Hinkelsteinen gespickt.  

Geschichten über Geschichten

Diesem Kontrast ist sich der Autor mehr als bewusst, wenn er Kemi, der von Jörg unterbrochen wird, ohne Antwort zu erhalten, fragen lässt: »Jörg? Das mit dem Wolf. Das war doch nur ein Traum. Ein Traum von mir. Können wir beide den gleichen Traum –« (W 163). Wolf zeigt mit dem Finger auf die eigenen Ungereimtheiten und weist eine Selbstreflexivität auf, hinter der Ferienlager weit zurückbleibt (was weder gut noch schlecht, sondern ein Fakt ist). Die Tatsache, dass diese Selbstreflexivität genau dann Einzug in den Text hält, wenn auch der Wolf zum ersten Mal erscheint, sei Beweis genug, dass die Verbindung der zwei im obigen Zitat kein Zufall ist: Unmittelbar vor dieser ersten Begegnung denkt Kemi darüber nach, wie wohl die Geschichte von Jörg ausgehe, die dieser nicht zuende erzählt hat, weil er eingeschlafen ist (vgl. W 66); dann über »diese[] Geschichte« (ebd.), das heißt über das echte Leben, in dem Jörg für alle sichtbar gemobbt wird und Kemi daneben steht und nichts dagegen unternimmt – später spricht er über »die (ich), die immer alles mit angesehen haben« (W 85); schließlich darüber, was man an Jörgs Geschichte ändern müsse, damit sie gut ende und wie unwahrscheinlich ein solches gutes Ende sei (vgl. W 68).

Durch die kleinen Reflexionen des Ich-Erzählers über die Geschichten, die sich ständig wie von selbst in seinem Kopf zu entrollen scheinen (vgl. bspw. W 66, 84, 145), wird Wolf auch zu einem Roman über das Geschichtenerzählen – ohne dass die Lesenden mit diesen Reflexionen in postmoderner Manier an der Nase herumgeführt werden sollen. Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Geschichten und ihren Unterschieden zur Wirklichkeit geht nicht ironisch, sondern ernsthaft vonstatten. Damit ist Wolf nicht nur stilistisch unverkennbar Stanišićs Text, der mit Sätzen glänzt wie: »Das Dickicht greift nach mir, Äste schlagen mir ins Gesicht, Wurzeln stolpern mich« (W 43). Nein, auch in anderer, genau genommen zweierlei Hinsicht bleibt sich Stanišić treu.

Grenze der Fiktion

Zum einen ziehen sich selbstreflexive Elemente durch beinah alle von Stanišićs bisherigen Veröffentlichungen. Explizit wird die Vorliebe für das Metafiktionale in Herkunft: »Ich habe das Betrügerische der Erinnerung satt und das Betrügerische der Fiktion allmählich auch.«6Stanišić: Herkunft, S. 229. Zum anderen vermengt Stanišić seine ernsthaften Auseinandersetzungen nur zu gern mit einer Komik, die nicht weniger als zum Schreien ist. Es sei dazu nochmals an Herkunft und das darin enthaltene Kapitel Spiel, ich und Krieg, 19917Vgl. Stanišić: Herkunft, S. 11-17. erinnert: In Stanišićs enorm unterhaltsam erzählte Anekdote, wie er fieberhaft das unwahrscheinliche Voranschreiten seines Fußballvereins Roter Stern Belgrad im Europapokal der Landesmeister (heute Champions League) verfolgt, brechen die ersten gewaltsamen Ausschreitungen und Kriegshandlungen in Jugoslawien hinein. Im Kontrast wird das Komische komischer und das Schlimme schlimmer und wie man sich als Leser:in hier nun fühlen soll – wer weiß das schon.

Das Aufrechterhalten einer ähnlichen Zwiespältigkeit gelingt Wolf, in dem Komik und Ernst ebenfalls Hand in Hand gehen, von Anfang bis Ende. Und das Ende ist komisch: Erst mit dem letzten Satz erfährt man den Namen des Protagonisten. Mit »Ich heiße Kemi, übrigens« (W 185) zitiert er Försterin Beate, die sich ebenfalls erst ganz am Ende ihres Vortrags vorstellt, was Kemi »super« (W 178) findet. Gleichzeitig spielt dieser letzte Satz auch mit seiner Vorlage, Ferienlager, in welcher der Ich-Erzähler ohne Namen bleibt. Wolf entlässt die Lesenden schmunzelnd, aber das Ende ist nicht gut. Wie könnte es auch, wo Kemi ständig darüber nachdenkt, wie unwahrscheinlich Happy Ends im echten Leben sind. Die Dinge bleiben in der Schwebe.

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Saša Stanišić
Wolf

Illustriert von Regina Kehn
Carlsen: Hamburg 2023
192 Seiten, 14,00€

Blättert man nochmal eine Seite zurück, fordert Betreuer Pietritsch die Jugendlichen auf: »Stellt euch das mal vor!« (W 183) Dem Philosophen Kendall L. Walton zufolge ist eine solche, in der Kunst meist implizite Aufforderung wesentlich für jegliche Art von Fiktion, die als Spiel des ›make-believe‹, des So-tun-als-ob zu begreifen sei.8Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge/London 1990, S. 4f. Die Rede ist hier von »representation«, was zumindest in Waltons Gebrauch synonym zum Begriff der Fiktion verstanden werden kann. Aber die Reaktion Kemis und der anderen Jugendlichen verrät, dass die Fiktion nun versagt: »Ich stelle mir nichts vor. Auch die anderen sehen sich hilflos um, als suchten sie etwas, woran sie ihre Vorstellung aufhängen könnten.« Den Figuren fehlt das, was Walton ›prompter‹ nennt: »Prompters contribute to our imaginative lives in several ways. […] They induce us to imagine what otherwise we might not be imaginative enough to think of.«9Walton: Mimesis as Make-Believe, S. 22. Für Walton sind beispielsweise auch Romane nichts anderes als (sehr elaborierte) Prompter, deren wesensgemäße Funktion es ist, fiktive Tatsachen zu generieren.10Vgl. Walton: Mimesis as Make-Believe, S. 37. Wolf aber dreht sich gerade um diejenigen fiktiven Tatsachen, die nicht hergestellt werden können. Das ist das Ende von Wolf – es markiert die Grenze der Fiktion, die genauso viele Hände hat wie die Drina (nämlich null), nichts aufhalten und nichts verhindern kann.11Vgl. Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert. Taschenbuchausgabe. München 2008, S. 208f. Menschen retten, das müssen schon Menschen machen. Zum Beispiel der Hüttenmitbewohner im Ferienlager im Wald könnte das, er müsste bloß ein wenig angeschubst werden – von einer Geschichte vielleicht.

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