Lückesein

In ihrem Roman Dschinns gelingt Fatma Aydemir das detaillierte Porträt einer türkischen Arbeiterfamilie. Ohne die Figuren aus den Augen zu lassen, widmet sie sich dabei auch drängenden gesellschaftlichen Fragen, unter anderem nach Geschlechtergerechtigkeit und rechtem Terror. Von einem Buch, das überzeugt.

Von Frederik Eicks

Bild: Via Pixabay, CC0

Fatma Aydemirs zweiter Roman Dschinns tut seinen Leser:innen einen Gefallen und stellt die für das Buch zentrale Frage gleich im ersten Satz: »Hüseyin… weißt du, wer du bist?« Zurecht fragen sich auch die Kinder Hüseyins – Ümit, Sevda, Peri und Hakan – sowie seine Ehefrau Emine, wer dieser schweigsame Mann eigentlich war, der nun so unvermittelt in seiner neu erworbenen Istanbuler Wohnung, für die er beinah dreißig Jahre lang in Deutschland geschuftet hat, gestorben ist. Im Tod bleibt der Familienvater die Lücke, die er schon zu Lebzeiten war. So erinnern sich seine Kinder an ein Zusammenleben, das eigentlich Nebenherleben war: an ihren Vater, der entweder in der Fabrik arbeitete oder sich, erschöpft von dieser Arbeit, ausruhen musste. Während sich die Figuren fragen, wer Hüseyin war, werden sie selbst mit jedem Satz, jedem Kapitel ausgeleuchtet, sodass nach und nach ein detailliertes Psychogramm einer einigermaßen dysfunktionalen Familie entsteht, deren Mitglieder nur einen Bruchteil dessen voneinander wissen, was die Leser:innen erfahren.

In allem Facettenreichtum

Der Plot ist zügig nacherzählt: Familienvater stirbt, Familie reist am darauffolgenden Tag zur Beerdigung an, Hakan und Sevda kommen zu spät. Erstaunlich ist bei diesem übersichtlichen Plot die Leichtigkeit, mit der Aydemir in den sechs Kapiteln (für jedes Familienmitglied eins) ihre gewissenhaften Figurenporträts mit sozialen, gesellschaftlichen und politischen Fragen verknüpft, ohne die Figuren, deren Persönlichkeiten den Roman konstituieren, aus dem Fokus zu verlieren. En passant werden Sexualität, Polizei- und Staatsgewalt, Geschlechtergerechtigkeit, toxische Männlichkeit, Alltagsrassismus, rechter Terror, Klassenunterschiede und Religiosität verhandelt.

Das gelingt auch dank einer wohlüberlegten Figurenkonstellation, deren Elemente sich zwar wesentliche Erfahrungen und eine Familienzugehörigkeit teilen, ansonsten aber im Kleinen vielfältige Facetten dessen zeigen, wie der Charakter einer Person aussehen kann: Wie gestaltet sie ihr Leben und was daran kann sie nicht gestalten? Wie geht sie mit Hindernissen um? Wie werden die eigenen Lebensverhältnisse (nicht) reflektiert? Dschinns lebt und atmet durch seine Figuren, mit denen sich der Roman so eindringlich und überzeugend beschäftigt, dass sich im Laufe der Lektüre allmählich das Gefühl einstellt, man lerne hier echte Menschen kennen. Aydemir stellt damit ihre Kunstfertigkeit unter Beweis.

Wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns

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Fatma Aydemir
Dschinns

Hanser: München 2022
368 Seiten, 22,00€

Dschinns wendet also den Blick ins Innere und thematisiert Gedanken und Gefühle, die niemals, oder zumindest nicht in diesem spezifischen familiären Kontext, an die Oberfläche gelangen: Der 15-jährige Ümit ist schwul, wird deswegen aus seiner Fußballmannschaft ausgeschlossen und von seinem Trainer zur Konversionstherapie geschickt; Sevda sucht in einer Ehekrise Halt bei ihren Eltern und ist so erschüttert über die Zurückweisung, dass sie jahrelang nicht mit ihnen spricht; Hakan verkauft gebrauchte, bisweilen gestohlene Autos, deren Kilometerstand er frisieren lässt; Peris Freund begeht Suizid, während sie selbst mit starken psychischen Problemen zu kämpfen hat und vor ihrer Familie nach Frankfurt a.M. flüchtet. Von all diesen Dingen wissen Hüseyin und Emine nichts.

Denn auch die beiden Eltern haben schweren Ballast, den sie mit sich tragen. Im Roman heißt es: »Wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns.« Auf diesen Gedanken kommt Peri, nachdem sie mit ihrem kleinen Bruder darüber spricht, was das eigentlich ist, ein Dschinn. Dem islamischen Vernehmen nach handelt es sich um körperlose Wesen, die in Menschen fahren und Unheil anrichten können. Aber die Studentin Peri interpretiert die religiöse Vorstellung im Sinne ihrer geisteswissenschaftlichen Ausbildung um: Dschinns seien die Dinge in ihrem Innern, vor denen die Menschen weglaufen und sich in diesem Weglaufen nur noch um sich selbst kreisen, den Blick für ihre Mitmenschen verlieren. Von welchen Dschinns die Eltern heimgesucht werden, wird im Laufe der Erzählung nach und nach aufgedeckt: Hüseyins traumatische Zeit beim türkischen Militär, der Verlust ihres erstens Kindes, das sie weggeben mussten, die Verleugnung ihrer kurdischen Identität – worüber Hüseyin und Emine nicht einmal miteinander sprechen.

Einfach – Schön

Die Darstellung zeichnet sich neben einer zugänglichen, keineswegs aber langweiligen Sprache vor allem durch häufige Rückblenden aus, welche die Figurenporträts immer weiter anreichern. Vor allem das erste, kürzeste Kapitel ›Hüseyin‹ und das letzte, längste Kapitel ›Emine‹ stechen heraus. Der Einstieg in den Roman ist brillant konzipiert und umgesetzt. Sprachlich ist hier insbesondere die häufige Wiederholung des Namens Hüseyin auffällig, der direkt angesprochen wird. Diese Du-Form wird im letzten Kapitel wieder aufgegriffen – nun gilt die Ansprache Emine. Welche Instanz mit den beiden spricht, bleibt im Dunkeln, denn die vermeintlichen Hinweise sind keineswegs eindeutig zu entschlüsseln: »Ich bin die Lücke zwischen dem, was du für richtig hältst und für falsch. […] Ich bin einfach nur die Stimme in deinem Kopf, Emine. Ich bin nichts ohne dich. Also sag mir, wer bist du?«

Nicht nur in der Form also, sondern auch inhaltlich spannt Aydemir ihren Bogen zurück zum Anfang – und zwar nicht nur mit der Frage danach, wer man denn nun sei, sondern auch mit dem Todesmotiv. Eine Vorausdeutung darauf findet sich bereits im Ümit-Kapitel, in dem eine Wahrsagerin Peri prophezeit: »In Wahrheit sehe ich zwei Beerdigungen.« Dass der Roman die Leser:innen auf diese Weise entlässt, ist schmerzhaft konsequent: Wenn schon im Innern alles bröckelt und in Bewegung gerät, warum sollte dann nicht auch die Welt, die Istanbuler Erde beben und die Wände der neu eingerichteten Wohnung zertrümmern? Und warum sollte Emines letztes Wort nicht dasselbe sein wie dasjenige Hüseyins, nämlich der Name ihres ersten Kindes, das den von den Eltern ausgesuchten, weiblichen Namen abgelegt hat und einen männlichen, kurdischen Namen trägt? Wenn man das so sagt, klingt es kitschig. In Aydemirs Umsetzung ist es einfach – schön:

»Du öffnest die Tür. Dein Herz geht auf. Du sagst: Ciwan.«

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