Zwischen Flucht und Pandemie

Im Jahr 2021 führte eine Gruppe Göttinger Studierender ein Forschungsprojekt zu einem in Deutschland oft übersehenen Thema durch: Wie das Leben von geflüchteten Menschen durch die Pandemie beeinflusst wurde. Im Interview erzählen sie von der Inspiration hinter dem Projekt, dem Forschungsprozess und den Ergebnissen.

Interview von Sofija Popovska

Bild: Via Pixabay, CC0

Seit ihrem Beginn im Jahr 2020 hat die Corona-Pandemie das Leben von Menschen in der ganzen Welt verändert. Das Navigieren durch die veränderte Realität, in der die sozialen Strukturen, die wirtschaftliche Stabilität und die physische Sicherheit aller gestört wurden, ist eine Aufgabe voller Herausforderungen. Allerdings befinden sich nicht alle Menschen in der gleichen gesellschaftlichen Position, und während die Probleme der Mehrheit weithin diskutiert wurden, erhielten marginalisierte Teile der Bevölkerung, die vor noch größeren Hürden stehen, selten die Gelegenheit, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Das Forschungsprojekt »Geflüchtete Menschen in der Pandemie«, das von vier Studierenden der Universität Göttingen durchgeführt wurde, beleuchtet die Pandemie-Erfahrungen einer geflüchteten Familie, die nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs in Deutschland Asyl beantragt hat, sowie die Reaktion auf Situationen wie ihre im Bundestag. Ihre Herausforderungen sind nicht zu unterschätzen: Durch die eine Krise im Herkunftsland aus einer stabilen Situation gerissen zu werden, nur um nach der Flucht nach Deutschland in die nächste Krise zu geraten, ist eine erschütternde Erfahrung. Litlog hatte die Gelegenheit, ein Interview mit den Projektbeteiligten über den Verlauf und die Ergebnisse des Forschungsprojekts zu führen.

Das Forschungsprojekt wurde zwischen Februar 2021 und November 2021 im Rahmen des FoLL-Programms der Universität Göttingen durchgeführt. FoLL, eine Abkürzung für »Forschungsorientiertes Lehren und Lernen«, ermöglicht Bachelorstudierenden interdisziplinäre Forschung, die über den üblichen Umfang eines Bachelorstudiums hinausgeht. Beteiligt am Projekt waren Robin Brohl, der derzeit Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert; Linus Lanfermann-Baumann, der kürzlich seinen B.A. in Anglistik und Geschichte an der Universität Göttingen abgeschlossen hat und jetzt Geschichte in Heidelberg studiert; Lisa Rabba, die aktuell Politikwissenschaft studiert; und Maximilian Wladyka, der Politikwissenschaft und Geschichte studiert. Betreuerin für das Projekt war Maria Pohn-Lauggas, Juniorprofessorin für Methodenplurale Sozialforschung am Methodenzentrum Sozialwissenschaften.

Was war die Inspiration für das Projekt?

Maximilian: Die Inspiration war eigentlich sehr pragmatisch: Beim Brainstormen haben wir herausgefunden, was die Interessen der einzelnen Personen sind, und dann versucht, diese Interessen in Verbindung zu setzen.

Linus: Beim Brainstormen ist aufgefallen, dass man das Wort »Ausnahmezustand« einerseits politisch fassen kann. Wenn eine Regierung zum Infektionsschutz weitreichende Maßnahmen einsetzt, dann könnte man das etwa als politischen Ausnahmezustand bezeichnen. Gleichzeitig gibt es in der Literatur Versuche, so etwas wie individuelle Ausnahmezustände festzustellen, zum Beispiel bei Personen, die auf der Flucht sind. Es war eine Inspiration für uns, diese beiden Auffassungen zusammenzubringen und zu sehen, wie man das erforschen kann.

Lisa: Für unsere FoLL-Überlegung, die das Projekt theoretisch einbettet, ist die politische Definition schon relevant, obwohl sie für das Projekt selbst nicht so wichtig ist. Auf der einen Seite gibt es die politischen Strukturen, also einen Ausnahmezustand als Kriseninterventionsinstrument. Dem gegenüber steht ein Verständnis von Ausnahmezustand, bei dem man aus den politisch-rechtlichen Strukturen herausfällt. Das ist dann zum Beispiel bei einer Flucht der Fall. Außerdem waren wir an den technischen Seiten des Forschungsprozesses interessiert. Glücklicherweise haben wir die Unterstützung unserer Betreuerin erhalten, als wir das Vorhaben äußerten, mit den Methoden Fallrekonstruktion und Diskursanalyse forschen zu wollen.

Wie sahen diese Methoden in der Praxis aus?

Maximilian: Der erste Teil war die biographische Fallrekonstruktion, eine rein qualitative Methode. Das Ziel davon ist es, aus den Biographien von Individuen gesellschaftliche Strukturen und Prozesse herauszuarbeiten. Obwohl wir uns speziell für das Pandemie-Erlebnis interessiert haben, konnten wir das nicht ohne lebensgeschichtlichen Kontext analysieren. In den vier mehrstündigen narrativen Interviews, die wir geführt haben, haben wir die Interviewpartner:innen völlig frei ihre Biographie erzählen lassen.

Linus: Wir haben also nach der gesamten Lebensgeschichte gefragt, auch wenn unser Interesse auf das Erleben von Flucht und Pandemie zielte. Anschließend haben wir eines dieser Interviews zur Transkription und Feinanalyse ausgewählt.

Lisa: Der besondere Reiz dieser Interviewform besteht darin, dass die Personen ganz frei ausdrücken können, was für sie wichtig ist. Wenn ich eine konkrete Frage stelle, dann impliziert das schon eine gewisse Perspektive. Die Idee bei narrativen Interviews ist, der Perspektive der interviewten Person so viel Raum wie möglich zu geben.

Robin: Der zweite Teil war die Diskursanalyse. Dabei haben wir untersucht, welche Regeln und Machtverhältnisse darüber entscheiden, wer wann und wie im Bundestag über die Überschneidung von Flucht und Pandemie redet. Dazu haben wir alle Bundestagsreden betrachtet, die öffentlich zugänglich waren, vom 5. Januar 2020 bis zum 5. Juni 2021. Wir haben alle Reden in einem großen Dokument zusammengestellt. Danach haben wir den Text erst nach Stichwörtern gefiltert, die wir aus relativ banalem Vorwissen gebildet haben. Worte wie ›Flucht‹ zum Beispiel sind selbsterklärend relevant. Weitere Stichworte haben wir daraus gebildet, dass wir alle Überschriften gelesen haben. Da wir nur sehr wenige Debatten gefunden haben, in denen beides diskutiert wird, haben wir uns entschieden, diese Texte einfach selbst zu lesen und eine Feinanalyse davon vorzunehmen, wie dieses Thema im Bundestag verhandelt wird.

Wie seid ihr dann vorgegangen?

Robin: Im ersten Teil unseres Projekts versuchen wir die Frage zu beantworten, wie geflüchtete Menschen die Zeit der Pandemie erleben und wie sie darüber erzählen. Das ist der rein qualitative Teil. Die zweite Frage ist, ob im parlamentarischen Diskurs der Bundestagsdebatten ein Zusammenhang von Flucht und Pandemie hergestellt wird, und wenn ja, in welcher Weise dieser verhandelt wird. Das übernimmt der teilweise qualitative, teilweise quantitative Teil – die Diskursanalyse. Daran anschließend haben wir beide Perspektiven zusammengenommen und versucht, eine dritte Frage zu beantworten: Welche Schlüsse lassen sich aus einer vergleichenden Gegenüberstellung der Ergebnisse der Teilprojekte ziehen?

…und die Ergebnisse?

Lisa: Sowohl der erste als auch der zweite Teil kommen zu dem gemeinsamen Schluss, dass die Überschneidung der beiden Ausnahmezustände – die Pandemie und die Flucht – zu einer Verschärfung bereits vorhandener Herausforderungen führt. Im ersten Teil, in der biografischen Fallrekonstruktion, kommen die einzelnen Themen sehr ausführlich zur Sprache, das sind zum Beispiel der Spracherwerb, die soziale und ökonomische Integration und die Bildung, die durch die Begebenheiten der Pandemie zusätzlich erschwert werden. Trotzdem ist im politischen Diskurs das Thema der doppelten Betroffenheit stark marginalisiert. Wir haben geschaut, was der Bundestag in einem ganzen Jahr dazu besprochen hat – es gibt eine einzige Debatte. Implizit wird im politischen Diskurs teilweise auch davon ausgegangen, dass die Probleme der Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, in dem Moment gelöst werden, in dem Deutschland ihnen Schutz gewährt. Das wird aber durch die Fallrekonstruktion widerlegt.

Reihe

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Wie hat es euch gefallen, als Student:innen an einem größeren Forschungsprojekt zu arbeiten?

Linus: Ich habe dabei sehr viel gelernt – inhaltlich, bei der methodischen Ausbildung und was Forschung allgemein angeht. Wir haben uns zum Beispiel bei der Planung einiges vorgenommen, das wir am Ende gar nicht mehr umsetzen konnten, obwohl wir alle über Monate hinweg extrem involviert waren. Da lernt man besser einzuschätzen, wie viel Arbeit, Zeit und Ressourcen bestimmte Forschungsprojekte und -methoden erfordern.

Lisa: Ich fand es auch toll, dass man einmal im Studium die Gelegenheit hatte, größer als für eine Hausarbeit oder Bachelorarbeit zu denken. Eine Bachelorarbeit ist in einigen Monaten durch, wir haben uns aber fast ein Jahr mit unserem Projekt beschäftigt. Das ist eine ganz andere Dimension, die man sonst im Studium nicht hat. Die öffentliche Präsentation danach hat das Ganze auch sehr offiziell gemacht. Eine Hausarbeit sieht man nach der Abgabe nie wieder. Hier aber haben wir unsere Forschungsergebnisse in einem großen Saal vorgestellt und es kamen Leute, die sie hören wollten. Dadurch habe ich mich mit meiner Forschung sehr ernstgenommen gefühlt.

Max: Außerdem war es eindrücklich, wie unsere geflüchteten Interviewpartner:innen uns über mehrere Stunden hinweg ihre Lebensgeschichten erzählt haben. Diesen Geschichten begegnet man im öffentlichen Raum in Deutschland sonst nur selten.

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