Kitsch und Klasse

In ihrem Debütroman Nordstadt erzählt Annika Büsing die turbulente Liebesgeschichte von Nene und Boris, die auch eine Geschichte von Klassenunterschieden ist. Das Ergebnis ist durchwachsen. Man sollte den Roman trotz gehörigen Kitschfaktors nicht vorschnell aburteilen.

Von Frederik Eicks

Bild: Via Pixabay, CC0

Im Grunde handelt es sich bei Annika Büsings Debütroman Nordstadt um ein recht schnörkelloses Buch: Liebesgeschichte mit wenigen Figuren auf knapp 120 Seiten, die auch nicht gerade eng bedruckt sind. Nene, Mitte 20, lernt in ihrem Schwimmbad, wo sie als Bademeisterin arbeitet, Boris kennen. Boris hat aufgrund einer Kinderlähmung eine Behinderung, fällt deswegen auf. Nene leiht ihm ein Schwimmbrett und ist beeindruckt davon, wie Boris langsam, aber stur und stetig seine zehn Bahnen schwimmt. Er fragt sie, ob sie mal ins Kino gehen wollen, sie sagt ja. Beide bringen ihr Päckchen mit: Er macht als Kind Mobbingerfahrungen und lebt in Armut, weil er wegen seiner Behinderung keinen Job bekommt; sie wird als Kind von ihrem alkoholabhängigen Vater geschlagen und als Jugendliche von einem Bekannten vergewaltigt. Diese Erfahrungen machen es den beiden schwer, sich aufeinander einzulassen. Sie stoßen einander ab, ziehen sich an und aus, aber auch das mit dem Sex braucht mehrere Anläufe. Den Roman trägt die Frage: Kriegen sie sich jetzt – oder nicht?

Kopfsprung in den Kitsch

Soweit klingt das alles eher unspektakulär, zumal der Klappentext »von einem Glück gegen jede Wahrscheinlichkeit« berichtet.  Es hört also auf mit einem »Ich liebe dich« als Eingeständnis der beiden, die Hürden gemeinsam nehmen zu wollen. Wobei dieses »Ich liebe dich« nicht der letzte, sondern der erste Satz des Buches ist. Nordstadt erzählt seine schnörkellose Geschichte in Zeitsprüngen, die zwar meist erkennbar sind, es den Lesenden aber nicht leicht machen, das Erzählte auf einem Zeitstrahl anzuordnen. So eine genaue Anordnung ist aber auch nicht notwendig, geht es dem Roman doch vor allem darum, die Lesenden emotional abzuholen und mitzunehmen in die Bewegungen des Auf und Ab und Hin und Her, die Nene und Boris vollziehen. Dafür werden auch einige besonders emotionalisierende Sätze mehrmals an verschiedenen Stellen der Erzählung wiederholt.

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Annika Büsing
Nordstadt

Steidl: Göttingen 2022
128 Seiten, 20,00€

Die Erzählweise passt also durchaus zur unsteten Beziehung, die hier porträtiert wird. Wie gut es dem Roman aber gelingt, irgendwen mitzunehmen, hängt sicherlich vor allem davon ab, wie diese Person mit der beträchtlichen Portion Kitsch umgeht, die Büsing hier serviert. Immerhin ist das Buch offensiv ehrlich und scheut nicht davor, diesen Kitsch schon auf dem Einband anzukündigen: »Am schlimmsten war es, ungefragt Mitleid zu bekommen. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte ein neues Leben. Aber das kann dir keiner geben.« An anderer Stelle sagt die Religionslehrerin zur Sportschwimmerin Nene: »Für die Liebe musst du auch ins Wasser steigen, obwohl du müde bist.«

Klassenunterschiede miterzählen

Es ließen sich weitere Stellen finden, die in dieselbe Kitschkerbe schlagen. Sprachlich wird es manchmal etwas ungelenk, beispielsweise mit Hyperbeln wie »eine sehr große Übermacht«. Es soll hier aber kein sinnloses Bashing betrieben werden – zumal solche Bücher, in denen unverblümt über Sex gesprochen wird, in denen ein »Schwanz« »absolut hart« ist und die feinen Bürgerlichen die »Muschi« »vergessen«, sich schlicht gut verkaufen. Nordstadt spricht ein großes Publikum an und sollte die Rechnung des Verlags aufgehen, sei es der Autorin gegönnt. Im Gegensatz zu anderen Werken ähnlicher Machart ist Nordstadt zumindest sichtlich bemüht, in seinen Darstellungen nicht ins Problematische abzurutschen. Das gelingt leider nicht immer, wenn Nene behauptet, dass männliches Verhalten, wenn beispielsweise in einer einvernehmlich monogamen Beziehung einer fremdgeht, »harmlos« sei, solange niemand vorsätzlich körperlich oder verbal verletzt werde. So zeichnen sich auch zwischen ihr und Boris beunruhigende Dynamiken ab, durch die noch niemand verletzt wird, die aber dennoch nicht harmlos sind. Beim großen, romantischen Finale heißt es dann: »Wenn du mit wem anders rummachst, stecke ich die Stadt in Brand.«

Dem Roman ist zugute zu halten, dass gesellschaftliche Missstände durchaus als solche benannt werden: Zu Beginn heißt es, »dass in vielen Städten der soziale Brennpunkt im Norden liegt« (wie glücklich der Begriff des ›sozialen Brennpunkts‹ ist, sei dahingestellt). Das Ganze bleibt auf einer eher individualisierten Ebene, wohingegen Strukturfragen verhalten und nicht sonderlich präzise gestellt werden. Trotzdem erzählt Büsing eine Geschichte, in der die Klassenunterschiede zwischen den Figuren immer präsent sind: der in Armut lebende Boris, der eine Pferdebesitzerin zur Mutter hat, Nene mit ihrer Bademeisterausbildung und ihrer als Goldschmiedin ausgesprochen gut verdienenden, spießbürgerlich-verklemmten Halbschwester Alma, Nenes Vater, der aufgrund seiner Suchtkrankheit einen sogenannten sozialen Abstieg vollzieht und der wie Boris in der Nordstadt lebt. Es wird deutlich, dass die Figuren keine Schuld an ihrer ökonomischen Lage haben. Lösungen dafür gibt uns Nordstadt aber keine und setzt vor allem auf eine menschliche Empathie, die stellenweise auch ins Menschelnde tendiert.

Was ist ein gutes Buch?

Das schlägt sich dann nieder in Binsenweisheiten wie: »Menschliches Verhalten ist sehr komplex und manchmal unlogisch« oder Klischees wie: »Er hatte gute Arme, kräftig, aber so wie man sie vom Kistentragen kriegt, nicht vom Fitnessstudio«. Solche Passagen machen Nordstadt nicht per se zu einem schlechteren Buch, sondern erst einmal zu einem, das eine Herausforderung für professionelle Leser:innen ist. Es ist ein Buch, anhand dessen man die eigene Wertungspraxis und die Maßstäbe, nach denen diese Wertungen vollzogen werden, zu hinterfragen lernen kann.

Denn wenn die eigene Meinung über das Buch im Laufe der Lektüre immer weiter an Kontur gewinnt, werden neue Werkaspekte gern so ausgelegt, dass sie dieser Kontur entsprechen. Zum Beispiel folgende Passage: »Ich hatte nicht gedacht, dass er Rechtsanwalt ist. Warum nicht? Weil ich in Klischees denke. Weil ich abrufe, was ich bisher schon so gesammelt habe an Informationen über die Welt. Und da sind bisher keine Borisse vorgekommen, die Anwälte waren.« Findet man den Roman schlecht, weil klischeebeladen, ist man vielleicht dazu geneigt, diese Stelle als eine Selbstvergessenheit auszulegen, die man dem Roman vorhalten könne. Genauso gut könnte man aber von einer Selbstreflexion sprechen. Schließlich ist der gesamte Roman aus Nenes Perspektive erzählt – wenn das in Klischees passiert, wenn das bisweilen unbeholfen wirkt, liegt das eben an der Figur.

Eines, an dem man wächst

Eine weitere Stelle, die man entweder zugunsten oder zulasten des Romans auslegen kann: »Es geht mir auf den Wecker, wenn Leute solche Sachen sagen wie: ›So ist das Leben‹ oder ›C’est la vie‹ oder ›Wo es bergab geht, geht es auch wieder bergauf‹.« Eine wohlwollende Lesart kann hierin statt eines dem Text schadenden Widerspruchs Indizien für eine Protagonistin erkennen, die ihre und andere Denkmuster zu hinterfragen beginnt. Ob solche Hypothesen für den gesamten Roman tragfähig sind, müsste eine detaillierte Untersuchung zeigen. Aber selbst, wenn so eine Lesart am Ende nicht funktioniert, bleibt Nordstadt ein Buch, an dem auch diejenigen, denen es nicht gefällt, wachsen können, wenn sie wollen – vielleicht sogar mehr als diejenigen, die ihre helle Freude daran haben werden.

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